Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
war der einzige Schmuck in dem seit der Renovierung ganz in Weiß, Blau und Haselnussbraun gehaltenen Büro.
Es war ein helles Büro geworden, viel Glas mit Lamellenjalousien,grüne Topfpflanzen, grauer Teppichboden, absolutes Rauchverbot. Auf dem Schreibtisch standen: das Telefon; eine Lampe mit verchromtem Schirm, alles funktional; ein Computer, ausgeschaltet; ein großer Aschenbecher, gefüllt mit Karamellbonbons und Stapeln offizieller Visitenkarten; vier Pappbecher mit Kaffee, unterschiedlich voll. Daneben lag die Sonntagsausgabe des Telegraaph mit der Schlagzeile Moord in het Vondelpark in leuchtendem Rot. Das Telefon klingelte nicht, und es regnete. Selbst der Regen wirkte weniger grau seit der Renovierung.
»Wie groß ist eigentlich ein Gnom«, fragte Inspecteur Vreeling.
»So groß wie ein zwölfjähriges Kind«, sagte Brigadier Tambur.
»Vielleicht war es ein Punk«, sagte Hoofdinspecteur Gallo, »ein kleiner zwölfjähriger Punker mit durchstochener Nase. Dem Mädchen – wie heißt sie noch ? Beatrix ? –, Bea ist irgendwas in seinem Gesicht aufgefallen, eine Art Piercing.«
Ähnlich wie der Regen war auch Ton Gallo, sechsundvierzig, schon lange vor der Renovierung des Präsidiums und der damit einhergegangenen Neuausrichtung der Corporate Identity der Polizei Teil von Van Leeuwens Arbeit gewesen: Kollege, Freund, Offizier und Gentleman. Statt der blauen Uniform mit der goldenen Reichskrone und dem horizontalen Streifen auf dem Schulterstück trug er lieber Levis, Turnschuhe, Rollkragenpullover und bei jedem Wetter eine Pilotenjacke aus Büffelleder, die perfekt zu seinen ungekämmten blonden Haaren und den hellen, fast bernsteingelben Augen passte.
Remko Vreeling, neunundzwanzig, gezeugt in Aruba und im Mutterbauch von den Niederländischen Antillen importiert, gehörte dagegen erst seit kurzem zur Kriminalpolizei, seit er Inspecteur geworden war. Sein Aussehen verschlug den Frauen immer wieder den Atem: glatte olivfarbene Haut, dunkelgrüne Augen, kurze schwarze Locken, Zähne, so weiß wie Schnee, ein Gesicht von ebenmäßiger Unschuld, das Ganze verpackt in weite, weich fließende Markenklamotten. Das reinste Model für Freizeitkleidung von Tommy Hilfiger , das sich nur vorübergehend in den Polizeidienst verirrt zu haben schien – Dekoration für die Mordkommision, wie er selbst bei seinem Antrittsbesuch gesagt hatte.
Blieb noch Julika Tambur, sechsundzwanzig, von der außer Van Leeuwen niemand viel wusste, weil sie sich wie eine Auster verhielt, wenn es um ihr Privatleben ging. Die Hülle diente der Abschreckung: Jeans, stonewashed und löchrig, ein schwarzes Muscle-Shirt, eine schiefergraue Lederjacke mit einem halben Dutzend Ketten und Reißverschlüssen, Stiefeletten mit eisenbeschlagenen Absätzen. Das korallenrote Haar stand in kleinen harten Strähnen vom Kopf ab.
Sie war hübsch – große blaue Augen, eine kleine zarte Nase, ein kaum geschminkter Mund – und fast zu zart für eine Polizistin. Vielleicht deswegen die harte Schale, dachte Van Leeuwen, vielleicht fuhr sie darum so schnell ihre Stacheln aus. Ein Seeigel, keine Auster. Manche weigerten sich, mit ihr zu arbeiten, und wenn er sie nicht behielt, stand es schlecht um ihre Zukunft bei der Polizei.
»Haben wir auch brauchbare Zeugenaussagen ?«, fragte er geduldig. »Gibt es schon einen Hinweis auf diese oder diesen Tic ? Ist das ein Mädchen, ein Junge oder ein Hund ? Hat sich jemand gemeldet, der den Jungen identifizieren kann ? Habt ihr bei den anderen Dezernaten nachgefragt – bei den Vermissten, beim Rauschgift ? Wer sind die Eltern des Toten ?«
»Wir haben Sonntag«, wandte Gallo ein.
»Glaubst du, das interessiert die Taliban ?«
»Seit wann kümmert es dich, was die Taliban denken ?«
Niemand außer Van Leeuwen und Gallo nannte sie so, die humorlosen Asketen, die inzwischen überall das Sagen hatten, bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft, den zugeordneten Behörden. Frisch von den Universitäten oder Polizeihochschulen, hatten sie alle Führungspositionen besetzt, ohne auch nur einen Tag Streife gegangen zu sein. Sie rauchten nicht, sie tranken nicht, und wahrscheinlich hörten sie auch keine Musik, nicht mal ein bisschen Vivaldi dann und wann. Sie schalteten ihre Handys niemals aus, operierten ohne Narkose, und wann immer sie den Mund aufmachten, rezitierten sie als Propheten der reinen Lehre die Suren von Integrität und Effizienz in der Polizeiarbeit. Van Leeuwen hatte sie als Erster so getauft, Taliban ,
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