Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
bin gleich da , dachte er, ich hol dich, hab keine Angst.
Das Kind bewegte sich nicht, obwohl die Flammen hinter ihm schon an den Zimmerwänden hochschlugen und über die Decke wirbelten. Es stand nur da, reglos, und blickte nach unten. Sieh nicht nach unten , dachte Van Leeuwen, wenn du springst, wirst du sterben, der Wind wird dich gegen die Mauer schleudern, und sie werden dich nicht fangen.
Er war fast da, nur noch ein paar Sprossen. Das Feuer wölbte sich wie ein flatterndes Segel aus dem hell erleuchteten Zimmer auf die kleine dunkle Silhouette zu. Es stöhnte und zischte, und überdem Kopf des Kindes stoben Funken in den Nachthimmel. Eine jähe Bö drängte die Lohen zurück in den Raum, sie rollten sich auf dem Boden, weiß und bläulich, aber gleich darauf sprangen sie wieder hoch und hüllten das Kind in flackerndes Rot. Kleine Flammen leckten über seinen Kopf, tanzten auf seinen Schultern. Es schrie, aus dem Prasseln und Knacken und Dröhnen konnte Van Leeuwen den Schrei hören, hell und voller Panik.
Das Stofftier fing Feuer, brannte an der schmalen Brust, brannte wie die Jacke, die Kapuze und gleich darauf auch die Haare, ein ganzer Kranz aus loderndem Licht atmete um das Kind.
Bitte , dachte er, bitte ...
Dann hob das flackernde Kind einen Fuß. Langsam trat es vom Sims ins Leere, gerade als Van Leeuwen sich vorbeugte, um nach seinem Arm zu greifen. Er hielt sich mit der linken Hand fest, und die rechte packte den Arm, aber der Arm unter der Jacke war dünn und hart wie ein Ast, verkrampft, und Van Leeuwens Hand rutschte ab, und er griff schnell noch einmal zu und erwischte die Kapuze und dachte, sie hält, Gott sei Dank, sie hält . Die Kapuze riss, und das Kind stürzte in die Tiefe. Fünf Stockwerke stürzte es hinab, wie ein kleiner Meteorit mit einem flammenden Schweif, der im schwarzen Wasser einer Gracht erlosch.
In diesem Moment erwachte er, immer. Er öffnete die Augen und sah, dass die Nachttischlampe noch brannte. Es hat kein Stofftier gehabt, dachte er, und es war kein Nachthemd, und eine Leiter gab es auch nicht. Er löschte das Licht. Simone regte sich mit einem leisen Seufzer. »Schlaf gut, mein Herz«, flüsterte Van Leeuwen und streichelte ihren Kopf. Solange sie neben ihm schlief, war es noch nicht das Ende.
4
Er sah es. Er sah die Tat vor sich, als er die Berichte las. Er sah sie nicht vollständig, nicht in allen Einzelheiten, nur ein bewegtes Bild, das er nach und nach ergänzte und vervollständigte. Er versankin den farblosen computergeschriebenen Wörtern, mit denen der Hoofdagent vom zuständigen Revier, der Pathologe und der Technische Dienst ihre Erkenntnisse zusammengefasst hatten, und er tauchte wieder auf im Vondelpark, am Abend des Koninginnedags. Er ging abwechselnd neben und hinter dem Jungen, versuchte mit dessen Augen zu sehen, die Dunkelheit zu durchdringen, die Geräusche zu orten – das Rascheln der Büsche im Wind, die Musik aus den Ghettoblastern, das ferne Technodröhnen. Er sah mehr als der Junge, denn er nahm alles wahr, was in den Berichten stand – die Zeugen, die Spuren, die Hinweise, die isoliert werden konnten. Sie leuchteten in der Szenerie wie digital herausgearbeitete Effekte in einem dieser Videospiele, nach denen die Kids heutzutage süchtig waren.
Er suchte den Splitter, den er gefunden hatte, aber die Stelle war noch leer, nur ein Busch unter einer Kastanie, der sich vielleicht etwas heftiger bewegte als die anderen. Der Splitter kam erst später ins Spiel, so wie die Zeugen, die den Jungen gesehen hatten, als er über das Gras dahinmarschierte, unsicher, die Hände in den Hosentaschen. Der Ärmel des Sweatshirts, unter dem auf seinem Oberarm das Tattoo prangte, war noch heruntergezogen. Niemand kam ihm entgegen, niemand war hinter ihm, er war ganz allein in der Nacht im Park, er und jemand, der ihn beobachtete.
»Ein kalkweißer Gnom«, sagte Hoofdinspecteur Gallo. »Ein Mädchen hat einen dünnen, kalkweißen Gnom in kurzen Hosen am Tatort gesehen.«
Van Leeuwen blickte auf und fand sich in seinem kleinen Büro im ersten Stock des Polizeipräsidiums wieder, belagert von den Kollegen der Mordkommission. Ton Gallo, Inspecteur Remko Vreeling und Brigadier Julika Tambur saßen ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs – einer auf dem Besucherstuhl, der andere auf der Fensterbank und die dritte auf einer Holzkommode, genau unter einem verblichenen Poster der Mannschaft von Ajax Amsterdam zur Jahrtausendwende. Das Poster
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