Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Dunkelheit, wo sie es entweder allein isst oder mit ihren Kindern teilt. Fleisch zu essen, gleich ob von Schwein oder Mensch, ist eine Orgie der Sinne, der man sich in schamhafter Abgeschiedenheit hingibt.
Keo ist der einzige heranwachsende Junge, der an dem Fest teil‑
nimmt. Die Männer der Fore essen keine Toten. Einmal begegne ich Keos Blick. Er sitzt ein Stück entfernt von mir auf der anderen Seite des Feuers und betrachtet die Bambusröhre, in der das Herz seiner Mutter gart. Plötzlich schaut er auf, mir direkt in die Seele, so trifft mich sein Blick, und seine Augen sind wie große braune Luftblasen, die jeden Moment zu platzen drohen.
Ich werde Zeuge, wie die Frauen und Kinder nach und nach beide Leichname aufessen, sogar die Knochen, die sie in der Glut verkohlen lassen, bis sie weich sind. Dann zerkrümeln sie die schwarzen Über reste und streuen sie über das Fleisch. Herz, Gehirn und Geschlechtsorgane aber sind die begehrtesten Köstlichkeiten, die nur den Ehefrauen oder deren weiblichen Verwandten zustehen. Im Grunde werden die Teile der Leichen nach dem gleichen Schlüssel verteilt, der auch für die Verteilung von Schweinen gilt.
Für mich als Fremden bleibt natürlich nichts übrig.
Der Commissaris lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er verspürte eine Müdigkeit, die über alles hinausging, was er kannte. Vielleicht war dies die einzige Regung, die einem noch blieb, wenn man in das Gesicht des Grauens geschaut hatte – eine tiefe, erschöpfungsähnliche Müdigkeit. Gleichzeitig verspürte er ein anderes Gefühl, das ihm zunächst so abwegig erschien, dass er es nicht einzuordnen vermochte. Aber dann, als es sich deutlicher bemerkbar machte, musste er sich voller Scham die wahre Natur dieses Gefühls eingestehen: Was er verspürte, war nagender Hunger.
Eine Seite noch, dachte er. Er hatte das zweite Heft kaum bis zur Hälfte durchgelesen, und in dem Rollschrank lag noch ein ganzer Stapel davon. Er sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es erst kurz vor Mitternacht war, obwohl er das Gefühl hatte, schon Stunden mit der Lektüre von Pieters’ Aufzeichnungen verbracht zu haben.
Also gut, eine Seite noch. Aber wirklich nur eine Seite.
Er ist zu mir gekommen, las der Commissaris , heute Nacht, in mein Zelt. Ich habe geschlafen und werde plötzlich von einer zarten Berührung geweckt. Das Mondlicht zeigt mir Keo, der neben mir liegt und so klein, schlicht und reizend aussieht, mehr wie eine Form, eine schattenhafte Gestalt, nicht wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein schlanker, leicht harzig riechender Körper. Ebenholzdunkel liegt er da, nur die Augen und Zähne schimmern weiß. Er lächelt. Leicht zu erfreuen, aber ebenso schnell zu verdrießen wie alle Männer seines Stamms.
Und da liege ich, welch merkwürdiger Zufall, neben einem solchen Jungen, der – nun ganz allein auf der Welt – bereit ist, sich mir zu öffnen, unbewusst, vertrauensvoll, zart wie eine Kinderfaust. Ich nehme ihn in die Arme, es ist so natürlich, ganz selbstverständlich. Wir reiben die Nasen aneinander und küssen uns. Zuerst sind seine Küsse trocken, arglos, unverdorben – eine Unschuld, aus der er ungeduldig erlöst werden will. Er schließt die Augen nicht, und die ganze Zeit bin ich wie gebannt von seinem Wolfsblick, von den dicht neben der Nasenwurzel in die Knochen geschnitzten Augen.
Mit der Leidenschaft wächst indes auch meine Unruhe , der eine vage Betrübnis folgt, denn ich weiß, dass ich nur eine Gelegenheit wahrnehme, während er sich eine Zukunft ausmalt. Aufrichtig ist nur meine Verzückung, meine Hingabe, während er kommt und geht wie Ebbe und Flut, Gezeiten aus Fleisch und Blut. Es ist das erste Mal für ihn. Danach halten wir uns lange fest, erkennen uns, ohne uns sehen zu können, und schlafen schließlich ein.
Unvermittelt hatte der Commissaris ein Déjà-vu-Gefühl. Schon wieder las er die intimen Gedanken eines Menschen, die Zeilen eines Liebenden, die nicht für ihn bestimmt waren; schon wieder erhielt er ungewollt Einblicke in das Herz eines Menschen. Dazu hast du kein Recht, dachte er. Er schämte sich. Was ist aus dir geworden ?, fragte er sich; kein Verdacht rechtfertigt das alles hier.
Der frühe Morgen ist unwirtlich. Als ich erwache, ist Keo fort, und meine Gedanken beginnen eine einsame, ruhelose Wanderung. Wie kann ich einordnen, was ich gestern erlebt habe ? Stehe ich unter Schock ? Was soll aus Keo werden, aus all den anderen Kindern
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