Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
ins Bett. Er las ihr ein paar Seiten aus der Schatzinsel vor, denn das war zurzeit ihr Lieblingsbuch. Als sie eingeschlafen war, ging er in die Küche und entkorkte eine Flasche Rotwein. Er nahm die Flasche mit in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Er schaltete den Computer ein, denn er wollte so viel wie möglich von Pieters’ Aufzeichnungen festhalten. Er glaubte zwar nicht, dass er jemals etwas davon vergessen konnte, aber darauf wollte er sich nicht verlassen.
Er wusste, er konnte sie nicht verwenden.
Josef Pieters war ein weltberühmter Wissenschaftler, vielfach ausgezeichnet und sogar für den Nobelpreis vorgeschlagen; für eine offizielle Hausdurchsuchung gab es keine Handhabe. Nichts von dem, was Van Leeuwen in dessen Haus entdeckt hatte, konnte er verwenden. Er konnte es nicht einmal jemandem erzählen, weder Hoofdinspecteur Gallo noch Brigadier Tambur, um sie nicht in Gewissenskonflikte zu stürzen. Er konnte es nur aufschreiben, und das tat er. Als er damit fertig war, wusste er, dass niemand ihm glauben würde, wenn er keine Beweise vorlegte.
Er wollte den Computer gerade ausschalten, als ihm noch eine Idee kam. Er gab den Namen Josef Pieters in die Suchmaschine ein, dann Publikationen und schließlich Neuguinea und Kuru. Die Liste der Artikel war endlos, alle erschienen in Fachzeitschriften, deren Namen Van Leeuwen noch nie gehört hatte. Er klickte ein paardavon an, überflog die ersten Sätze, Nach einer Stunde stieß er auf einen Artikel in einem Magazin namens Lancet . Das Wort Kannibalismus fiel ihm ins Auge, und er ging zurück bis zum Beginn des Absatzes.
Wenn Fore im Sterben liegen, las er, bitten sie darum, gegessen zu werden, damit ihr Leichnam nicht in der Erde verwest. Schon im Voraus verteilen sie ihre Körperteile an ihre liebsten Verwandten. ›Ich fress
dich‹, ist ein häufig gehörter Gruß, der tiefe Zuneigung ausdrückt. Auch wir sagen ja manchmal zu jemandem, den wir besonders lieben: ›Ich hab dich zum Fressen gern.‹ Das süßlich schmeckende Fleisch der Verstorbenen erfreut sich größter Beliebtheit bei den Frauen; die Männer dagegen halten sich lieber an die kleinen wilden Schweine.
Für die Fore ist das Verzehren ihrer Verwandten ein Akt der Liebe, eine Totenfeier. Aber für viele unter ihnen ist es auch ihr Todesurteil, wie mir schlagartig klar wurde, als mir bei einem Zwischenstopp auf den Fidschi-Inseln eine mehrere Wochen alte Ausgabe der Zeitschrift Time in die Hände fiel. Darin entdeckte ich einen Artikel über
einen Forscher, der kleine Plattwürmer, die in der Erde leben, darauf trainiert hatte, ihren Weg durch ein einfaches Labyrinth zu finden. Anschließend hatte er die solcherart ›ausgebildeten‹ Würmer klein gehackt und anderen Würmern ihrer Gattung zu fressen gegeben. Es gelang ihm, zu beweisen, dass die Würmer, die mit ihresgleichen auch deren ›Wissen‹ gefressen hatten, den Weg durch das Labyrinth schneller fanden als andere, die dieses ›Futter‹ nicht bekommen hatten.
Durch ›Kannibalismus‹ konnten also bestimmte Informationen weitergegeben werden, und was ist ein Virus anderes als ein Informationsträger ? Die Gewohnheit der Fore, ihre Leichen zu essen, ließ die Vermutung zu, dass auf diesem Weg auch virale Erreger übertragen werden. Endlich begriff ich, warum Kuru lediglich bei Frauen und männlichen Kindern auftritt: Nur sie beteiligen sich an diesen kannibalistischen Orgien. Nur sie essen das Gehirn der Toten.
Es scheint mir daher im Umkehrschluss auch immer wahrscheinlicher, dass die Ursache von Kuru ein übertragbarer Erreger mit langer Latenzzeit ist. Notabene: Natürlich werden noch jahrelange aufwändige Experimente mit Ratten und Affen notwendig sein, bis ich diese Vermutung beweisen kann, vorausgesetzt, man stellt mir die entsprechenden Mittel zur Verfügung.
Der Gedanke, diese faszinierende Erkenntnis nun auf dem mühseligen, von Zweiflern, Neidern und Spöttern begleiteten ›wissenschaftlichen Weg‹ in den klinischen Labors unserer Universitäten und Pharmakonzerne unter Beweis stellen zu müssen, erfüllt mich mit Sorge. Drei Jahre lang habe ich in einer steinzeitlichen Welt gelebt, in der es keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gibt; einer Welt voll kindlicher Phantasie, kindlichem Humor und kindlicher Lust auf sofortige Befriedigung jeder Leidenschaft. Das Wort Verantwortung kennen die Fore genauso wenig wie den Begriff der Moral. Ich musste, um Kinder zu haben, um ihnen all
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