Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Dienstaufsichtsbeschwerde gegen dich einzureichen«, unterbrach ihn der Hoofdcommissaris, »und ich kann ihm das nicht mal verdenken ! Was war das überhaupt für ein Mädchen ? Eine kleine Nutte, wenn ich das richtig verstanden habe, noch minderjährig, oder ? Du hast es doch nicht etwa mit ihr getrieben da oben in der Kammer unter dem Dach ? Bei allem Verständnis für deine Situation zu Hause –«
»Sie hat mir leidgetan«, sagte Van Leeuwen. »Das war alles.«
»Eine Nutte braucht einem nicht leidzutun«, sagte der Hoofdcommissaris im besten Talibanton. »Niemand hat sie zu dem gezwungen, was sie tut – es war schon immer in ihr drin, und es hat nur auf jemanden gewartet, der es freilegt. So wurde sie geboren, so wird sie sterben, und du kannst daran nichts ändern, genauso wenig, wie du einen Gletscher ändern kannst.«
»Inschallah«, murmelte Van Leeuwen.
Die Stimme des Hoofdcommissaris wurde leiser. »Ich mag dich, Bruno«, sagte er. »Du bist ein Fossil, der Letzte seiner Gattung, ein analoger Mann in einer digitalen Welt sozusagen. Du stehst irgendwie unter Artenschutz. Ich bin weder herzlos noch blind für deine Erfolge. Aber wenn wir da nicht den toten Jungen im Vondelpark hätten, den du dir so öffentlichkeitswirksam unter den Nagel gerissenhast, würde ich dich trotzdem auf der Stelle vom Dienst suspendieren, und glaub mir, beim nächsten noch so winzigen Abweichen vom Dienstweg bist du fällig ! Wie weit bist du überhaupt inzwischen mit dem Fall ? Wissen wir schon, wer der Junge war ?«
Van Leeuwen trat innerlich einen Schritt zurück und dann noch einen und noch einen, bis er sich nicht mehr im Büro des Polizeipräsidenten befand, obwohl seine leibliche Hülle noch einige Minuten Rede und Antwort stehen musste.
»Wissen wir inzwischen, wer der Junge ist ?«, fragte er seine versammelte Mannschaft, sobald Seele und Körper wieder vereint in seinem eigenen Büro an ihre Arbeit gehen konnten. »Haben sich schon irgendwelche Zeugen gemeldet ?«
»Nein, aber ich habe mich ein bisschen im Internet umgesehen«, sagte Julika, »nach Fällen, die Parallelen zu unserem aufweisen.«
»Unter welchem Suchbegriff ?«, wollte Vreeling wissen.
»Kinder«, antwortete Julika. »Kinder als Opfer oder Kinder als Täter. In Deutschland gab es eine Mordserie, für die ein so genannter schwarzer Mann verantwortlich sein sollte. Er trieb sein Unwesen meistens in der Nähe von Jugendherbergen oder bei Open-Air-Konzerten. Bisher werden ihm fünf Morde an Kindern zugeschrieben, außerdem sexueller Missbrauch von mindestens vierzig weiteren Jungen.«
»An unserem Opfer gibt es keine Spuren von sexueller Gewalt«, sagte Gallo. »Außerdem haben die Zeugen den möglichen Täter nicht als schwarz, sondern als weiß beschrieben, kalkweiß, um genau zu sein.«
»Gehen wir denn von einem Serientäter aus ?«, warf Vreeling ein. »Wir haben doch nur einen Toten.«
Gallo sagte: »Aber wir wissen nicht, ob es sich tatsächlich um einen isolierten Fall handelt oder ob er nicht in eine uns noch unbekannte Reihe gehört, die schon vor ihm angefangen hat und nach ihm weitergehen wird. Außerdem gibt es verhinderte Serienmörder, die bei ihrer Festnahme nach der ersten oder zweiten Tötung gestanden haben, dass sie weitergemacht hätten, wenn sie uns nicht ins Netz gegangen wären.«
»Ich glaube nicht an einen Serienmörder«, sagte Van Leeuwen, den Blick auf das En-face-Foto des toten Jungen in der aufgeschlagenen Zeitung vor sich auf dem Schreibtisch geheftet. »Sonst noch was, Mevrouw ?«
»Vor fünf Jahren«, fuhr Julika fort, »sind in England zwei zehnjährige Jungen wegen Mordes an einem zur Tatzeit zweijährigen Kind zu zwanzig Jahren Jugendhaft verurteilt worden. Die beiden zehnjährigen Jungen hatten den kleinen Jamie aus einem Shopping-Center entführt, grausam gequält und dann auf ein Bahngleis gelegt, wo ihn der nächste Zug überfuhr und zerquetschte. Vorher hatten sie ihm das Gesicht mit blauer Farbe bespritzt. Sie hatten so was in einem Horrorvideo gesehen. Vor Gericht legten sie kein Geständnis ab und zeigten auch nicht die geringste Reue.«
»Wenn sie zwanzig Jahre gekriegt haben, sind sie doch erst in fünfzehn Jahren wieder draußen«, sagte Vreeling.
»Sie wurden vor einem halben Jahr aus der Haft entlassen«, sagte Julika. »Das Appellationsgericht war der Meinung, sie hätten damals keinen fairen Prozess gekriegt. Sie sind mit neuen Namen, Pässen und Geburtsurkunden ausgestattet worden, damit
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