Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
ich.« »Kevin – und wie weiter ?«
»Kevin van Leer.«
»Hat er sich deinen Namen auf den Arm tätowiert ?«
»Ja«, sagte Tic, und dann erst ging ihr auf, was es bedeutete, dass der Commissaris das wusste. Die Finger entspannten sich, die Händefielen auseinander wie zwei Schalen, in denen nichts lag, nicht einmal mehr Hoffnung. »Er ist es, oder ?«, fragte sie leise. »Der tote Junge im Park, das ist Kevin.«
»Auf seinem Arm ist ein dreiblättriges Kleeblatt tätowiert, und daneben steht Tic «, antwortete Van Leeuwen ausweichend, obwohl er jetzt fast sicher war. »Ist das dein richtiger Name ?«
»Eigentlich heiße ich Mareike«, antwortete sie wie in Trance. »Nur er hat mich Tic genannt.« Ein Kopfschütteln in Zeitlupe. »Er ging sonst nie durch den Park. Er hatte Angst, besonders in der Nacht. Er hatte überhaupt ziemlich viel Angst, aber das hätte er nie zugegeben, weil – ist ja nicht cool, Angst zu haben. Wir waren noch verabredet am Samstagabend, aber er ist nicht gekommen, und er hat auch nicht angerufen, nicht mal bei Deniz oder Robbie, und bei ihm zu Hause war sowieso niemand, seine Mutter ist ziemlich viel unterwegs –«
»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen ?«, fragte Van Leeuwen. Er drehte sich kurz um und warf einen Blick in den Spiegel an der Wand neben der Tür. Er wusste, dahinter standen Gallo, Julika und Vreeling und schauten zu, und der Blick sollte ihnen sagen, dass er vielleicht bald jemanden brauchte, spätestens in dem Moment, wo Tic alles richtig klar wurde.
»Am Samstagnachmittag«, antwortete sie. »Wir waren aus wie alle, feiern, aber dann haben wir uns irgendwie im Gewühl verloren, und für den Fall hatten wir ausgemacht, dass wir uns um zehn im Club treffen, nicht mehr so lang, weil ich um halb zwölf zu Hause sein musste, aber bis elf war er nicht gekommen, und Deniz und Robbie haben mir dann erzählt, dass er auch später nicht gekommen ist, er ist überhaupt nie mehr –«
»Wer sind Deniz und Robbie ?«
»Wir hängen immer zusammen rum, wir vier. Robbie ist die Freundin von Deniz.«
»Und wer ist Deniz ?«
»Deniz ist Türke – sein Vater, meine ich. Seine Mutter, woher die ist, keine Ahnung ...«
»Du hast vorhin gesagt, Kevin hätte Angst gehabt. Wovor ?«Tic antwortete nicht. Sie starrte auf ihre leeren offenen Hände. »Hatte er Feinde ? War er in einer Gang ? Hatte er Probleme mit anderen Kids, in der Schule vielleicht ?«
Ihre Augen wurden feucht. Dann sank ihr Kopf vornüber, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen auf dem Tisch. Ihre Schultern zuckten. »Ich habe ihn geliebt«, sagte sie und schluchzte. »Wir haben uns doch so geliebt ! Wie kann er da einfach sterben ? Wie kann man sterben, wenn man so wahnsinnig geliebt wird, so wahnsinnig ?«
»Er ist nicht gestorben«, sagte Van Leeuwen. »Er wurde ermordet.« Er sah auf das Mädchen, das aus seinen Händen zu ihm sprach, sah den zarten, zitternden Hals und das kräftige, kaum zu bändigende Haar, und er fragte sich, was der Hoofdcommissaris in ihr sehen würde, welchen kalten Gletscher, den nichts mehr verändern konnte und dem alles vorherbestimmt war. Er fragte: »Mareike, hast du deinen Ausweis bei dir ?«
Sie nickte und richtete sich wieder auf. Mit einer Hand zog sie ihren Personalausweis aus einer der Hosentaschen. Sie betrachtete ihn kurz, als gehörte er jemandem, den sie nicht kannte. Dann legte sie ihn auf den Tisch, wo Van Leeuwen ihn sehen konnte. Mareike Palmen las er. »Danke, Mareike. Du hast uns sehr geholfen. Kannst du mir noch die Adresse von Kevins Eltern geben ?«
»Ich weiß nicht, wovor er Angst hatte«, sagte sie plötzlich so ruhig, wie sie noch nie gewesen war, seit Van Leeuwen das Verhörzimmer betreten hatte. »Er tat immer, als hätte er keine Angst, vor nichts und niemandem, dabei konnte man spüren, wie er zitterte, wenn man ihn in den Arm nahm oder wenn er mich küssen sollte; man musste ihn erst ganz lange festhalten und streicheln wie ein kleines Tier, bis er ruhig war. Aber am Koninginnedag kam irgendwas Neues dazu, eine neue Angst, es hatte mit dem Krankenhaus zu tun, dahatte erwas gesehen, was er nicht sehen sollte, hat erwenigstens gesagt, und das hat ihn dann verfolgt, man hat richtig gemerkt, wie es ihm nachgegangen ist, wie diese Angst in ihm gewühlt hat –«
»Was für ein Krankenhaus ?«Tic griff nach ihrem Ausweis und steckte ihn wieder ein. »Das, wo seine Mutter arbeitet. Sie ist Ärztin am Universitätskrankenhaus. Er hat sie da
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