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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Dämmerlicht des Schlafzimmers sah es aus, als hätte sich jegliches Leben daraus zurückgezogen. Ein Ölgemälde, dachte er, von einer kauernden Frau, deren Gesicht jemand mit Terpentin entfernt hatte.
    Einen Moment später war sie aufgestanden, hatte lächelnd alle Schuhe auf die Bettdecke gehäuft und war dann mit der zusammengerafftenDecke und den Schuhen zur Tür gestapft. »Gehen wir jetzt ?«
    Plötzlich war Simones Krankheit auch für ihn Wirklichkeit geworden, ihre Wirklichkeit . Er versuchte sich vorzustellen, wie es war, wenn man einen Artikel las, den man selbst geschrieben hatte, ohne sich daran erinnern zu können. Warum steht mein Name darunter, ist das ein Versehen ? Simone van Leeuwen bin ich, aber das habe ich nicht geschrieben. Ich bin doch Simone van Leeuwen. Wer ist Simone van Leeuwen ?
    Er versuchte sich vorzustellen, was sie empfand, wenn sie spürte, dass sie sich veränderte, auf eine Weise, die sie niemanden merken lassen durfte. Dass das eigene Leben ihr fremd wurde, der Alltag zum Irrgarten. Wie fühlte man sich, wenn man mit kleinen Schritten, aber unaufhaltsam die Welt wieder verlassen musste, die man sich als Kind erobert hatte ? Wenn man die Worte verlor, die eigenen Gedanken nicht mehr zu fassen bekam ? Was dachte sie, wenn sie in ihren Taschen lauter Zettel fand, bekritzelt mit geheimnisvollen Anweisungen?
    Du musst essen und trinken.
    Was war in ihr passiert, als sie – irgendwann, unvermittelt – erkannte, dass sie die falsche Gracht entlangging, ohne zu wissen, wann sie die richtige verlassen hatte ? Es musste die falsche sein, denn es gab dort nichts, was sie kannte; nichts, weswegen sie hergekommen war. Wohin wollte ich überhaupt, und was wollte ich da ? Wie komme ich wieder zurück in eine Gegend, die ich kenne ? In welcher Stadt bin ich, in welchem Land ? Er versuchte sich die jähe Verlorenheit vorzustellen, die abgrundtiefe Furcht. Wo ist mein Haus, meine Wohnung, mein Bett ? Wer wartet dort auf mich ?
    Er sah sie auf der Straße stehen, reglos. Sah die Verwirrung auf ihrem Gesicht. Sah ihre Augen, in die Besorgnis trat, dann Angst. Er wollte sie in den Arm nehmen, ihre Hand ergreifen, um sie zu führen. Um sie festzuhalten, wie er es versprochen hatte. Der Drang war so stark, dass er die Berührung spüren konnte, die nicht stattgefunden hatte, denn dieser Moment lag lange zurück, und er, Van Leeuwen, war nicht da gewesen.
    Er hatte sich in Mörder hineinversetzt.
    Und so stand er jetzt allein in der Küche, um zwei oder halb drei oder drei Uhr nachts, und die Wohnung war dunkel wie der sternenlose Himmel vor dem Fenster. Etwas Helligkeit glomm über der Stadt, aber eigentlich war das kein Licht, es war nur Elektrizität. Er brauchte weder das eine noch das andere, um sehen zu können; er brauchte nicht einmal ein Fenster.
    Im Schlafzimmer schlief Simone, und draußen in den Häusern an den Straßen und Grachten der Stadt schliefen die, die ihm anvertraut waren, die er beschützen oder ihrer Bestrafung zuführen musste, die Arglosen und die Skrupellosen und die Kinder, Jung und Alt. Sie träumten und schliefen, allein oder miteinander oder für immer, während der Regen langsam weiterzog und der Himmel aufklarte, und bald würden die Ersten aufstehen und ihrer Arbeit nachgehen, so wie auch die Möwen aus ihrem Schlaf erwachten, im Jordaan, an der Oude Zijde und der Nieuwe Zijde und in den anderen Vierteln von Amsterdam und noch weiter außerhalb, auf dem Land, wo die Nacht noch dunkler gewesen war, in Delft, Haarlem oder Zandvoort, und keiner wusste, wie er hier gestanden und getrunken und darum getrauert hatte, dass er sich in jeden hineinzuversetzen vermochte, selbst in den Schlimmsten unter ihnen, aber nicht in die Frau, die er liebte und die gerade hinter ihm im Schlafzimmer schlief.
    Er trank das Glas leer. Der Wein schmeckte anders, wenn man ihn nicht sah. Van Leeuwen fragte sich, ob es wirklich sein Schicksal gewesen war, dass er Polizist und schließlich Commissaris werden musste, verheiratet mit einer Frau, die ihn immer wieder aufs Neue vergaß.
    Er fragte sich, ob er für irgendjemanden eine Hoffnung darstellte, für Esther oder Julika oder vielleicht sogar für Ellen, ob er ganz unvermeidlich zu jemandes Schicksal gehörte; ob es außer Simone noch einen Menschen gab, der etwas von ihm erwartete und den er nicht enttäuschen durfte.
    Dann dachte er, dass er am nächsten Tag wieder früh aufstehen musste, weil es wieder einen Mörder in der Stadt gab. Er

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