Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Klinik«, sagte Van Leeuwen. »Jedes Mal, wenn er Sie besucht hat. Ach, was halten Sie eigentlich von Tic ?«
»Wer ist Tic ?«, fragte Ruth van Leer.
»Sie kennen die Freundin Ihres Sohnes nicht«, sagte er. »Sie melden ihn nicht als vermisst, obwohl er seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen ist. Nehmen Sie Drogen, Mevrouw ?«, fragte er.
»Wie bitte ?« Plötzlich war ihre Stimme wieder fester. »Was erlauben Sie sich, Mijnheer ? Wovon reden Sie ?«»Amphetamine«, sagte er. »Speed. Kleine Pillen, die einem helfen, den Klinikalltag zu überstehen. Vielleicht mal eine Spritze dann und wann.«
Es war so still im Zimmer, dass man fast hören konnte, wie die Pollen auf dem Fensterglas landeten und in den Ecken der Rahmen winzige gelbe Verwehungen bildeten.
»Wann waren Sie das letzte Mal in seinem Zimmer ?«, fragte Van Leeuwen. »Um einen Blick in seine Welt zu werfen, um sich dort umzusehen ? Um zu schauen, welche Brücken es gibt.«
»Er mag es nicht, wenn jemand sein Zimmer betritt. Daran halte ich mich.«
»Ich würde es mir gern einmal anschauen.«
»Ich glaube nicht, dass Kevin das recht wäre«, sagte sie.
Van Leeuwen fragte sich, wovor sie sich mehr fürchtete, vor ihrem Sohn oder vor dem, was sie in seinem Zimmer über ihn erfahren könnte. »Wussten Sie, dass Kevin Angst hatte, Mevrouw ?«
»Angst ? Wovor denn ?«
Warum wussten Sie das nicht, dachte er ? »Vor etwas, das er in der Klinik entdeckt hat«, sagte er. »Bei einem seiner Besuche, wenn er seine Mutter sehen wollte.«
Sie schüttelte wieder den Kopf, als wüsste sie nicht genau, was eine Mutter war und warum man sie besuchte. Aber er sah, dass etwas hinter ihrer Stirn geschah, etwas hinter den Augen und den Schläfen, die sie jetzt mit den Fingerspitzen beider Hände rieb, während sie sich zu konzentrieren versuchte.
»Denken Sie nach, bitte«, sagte Van Leeuwen eindringlich, »etwas im Universitätskrankenhaus, das einem vierzehnjährigen Jungen eine so tödliche Angst eingejagt haben könnte –«
Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht. Sie streckte eine Hand aus, suchte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, und griff ins Leere. Ein seltsames Stöhnen entfuhr ihr. Dann fiel sie auf die Knie, stützte sich mit beiden Händen auf dem Teppich ab. »Er ist tot«, sagte sie. »Kevin ist tot, nicht ? Darum reden Sie immer in der Vergangenheitsform ...«
Van Leeuwen ging zu ihr und versuchte, ihr aufzuhelfen, abersie wollte nicht, sie machte sich schwer, und erst als Gallo ihm half, gelang es ihnen, sie hochzuheben und auf die Couch zu setzen. »Sind Sie deswegen hier ? Um mir das zu sagen ? Dass mein Sohn tot ist ? Ist er tot ? «, fragte sie mit einer Stimme, die von einer Tonlage in die andere wechselte, als wüsste sie nicht, welche angemessen klang für das, was von ihr erwartet wurde. » Ist er tot ? «
»Ja, Mevrouw«, sagte Van Leeuwen. »Wir möchten Sie bitten, uns in die Gerichtsmedizin zu begleiten, um ihn zu identifizieren.«
Ruth van Leer saß auf der Couch, unter der zarten Tänzerin von Degas, und zeigte durch nichts, dass sie ihn verstanden hatte. Sie sah hinüber zum Garten, dem der beginnende Abend seine Farben entzog, und nur die gelben Pollen schwebten noch weiter im letzten Licht des Tages. Vielleicht versucht sie zu weinen, dachte Van Leeuwen.
Der Park lag in tiefer Dunkelheit. Dort, wo Laternen standen, war es etwas heller, aber außerhalb ihres orangefarbenen Lichts warteten schon die Eulen darauf, ihre nächtlichen Jagdflüge zu beginnen. Die Kronen der Bäume, in denen sie saßen, verschmolzen mit dem Himmel. Van Leeuwen stand neben der Kastanie, unter der sie den toten Jungen gefunden hatten, und fragte sich, wonach er suchen sollte.
Der Commissaris war mit Hoofdinspecteur Gallo und Doktor van Leer in die Gerichtsmedizin gefahren, wo sie ihren Sohn iden tifiziert hatte. Reglos hatte sie neben der aufgebahrten Leiche gestanden und gesagt: »Ja, das ist er.« Schockgefroren, aber nicht erst seit heute; schon vor langer Zeit. Wieder waren Van Leeuwen die Worte des Hoofdcommissaris eingefallen: Du kannst daran nichts ändern, genauso wenig, wie du einen Gletscher ändern kannst, und er hatte gedacht, dass man vermutlich so redete, wenn man von morgens bis abends in einen Innenhof mit einem künstlich angelegten Mischwald und einem Fischreiher aus Holz blickte.
Danach hatte Gallo sich bereit erklärt, Kevins Muter nach Hause zu bringen, während Van Leeuwen auf dem Heimweg plötzlich umgekehrt
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