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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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lächelte und nickte. Aber dann verschloss sich ihr Gesicht. »Muss morgen früh raus«, murmelte sie. »Muss jetzt ins Bett.«
    »Aber da kommst du doch gerade erst her«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Der Laden«, sagte sie. »Muss früh raus. Bin so leichtsinnig.«
    Der Arzt hatte ihm erklärt, dass es gut für sie wäre, wenn er mit ihr an Orte fuhr, an denen sie früher glücklich gewesen war, oder wenn er ihr Lieder vorspielte, die sie gern gehörte hatte. Ab und zu las Van Leeuwen ihr eine ihrer Lieblingsgeschichten vor, und wenn sie so spät noch aufwachte, spielte er Musik für sie. Sie stand dann auf einmal in der Tür und fragte: »Können wir jetzt das Lied hören ?« Er hatte alle möglichen Lieder aus den verschiedensten Abschnitten ihres Lebens auf Langspielplatten und Singles, und She loves you war das älteste. Er wusste nie, welche Erinnerungen die Lieder auslösten, ob es eine glückliche war oder eine traurige, denn manchmal weinte sie auch und sagte dennoch, es sei ein schönes Lied.
    »Welchen Laden meinst du denn ?«, fragte er, obwohl er wusste, es war der Gemischtwarenladen ihrer Eltern, in dem sie in den Ferien mitgeholfen hatte. »Es gibt keinen Laden mehr, du musst morgen nicht arbeiten. Weißt du noch, wie wir die Beatles in meinem Transistorradio gehört haben ?« Er fing an, leise mitzusingen. »She loves you, yeah, yeah, yeah ... She loves you, yeah, yeah, yeah ... And you know you should be glad ... Ich habe dich abgeholt nach der Arbeit. Du warst erst zwölf. Du hattest keine Ahnung, wie man küsst ... Ich auch nicht.«
    Jetzt lächelte Simone wieder, aber er hatte den Verdacht, dass es an seiner Stimme lag, daran, wie er die Töne verfehlte, wenn er mitzusingen versuchte. Er fragte: »Möchtest du etwas Wein ?«
    Sie hatte vergessen, dass sie ins Bett gehen wollte, um morgen in aller Frühe den Laden ihrer Eltern aufzusperren. »Ja«, sagte sie.
    »Den haben wir in Siena getrunken«, erinnerte er sie, als er mit dem Glas zurückkam, in dem er wenig Wein mit viel Wasser gemischt hatte.
    Ihr Gesicht leuchtete auf. Einen Moment lang schienen ihre
Augen so wach und lebendig zu sein wie früher. »Siena«, sagte sie.
»Was haben sie da dauernd für ein Lied gespielt ?« Er ging zum
Plattenschrank. »War es – wie hieß das noch ? – Azzurro, von diesemItaliener ?« Er suchte ein Album mit zwanzig Jahre alten italienischen Sommerhits heraus, das ganz rechts im Regal neben Saturday Night Fever von den Bee Gees stand. Er legte es auf und setzte die Abtastnadel an den Anfang der Nummer, und das Lied begann, aber es war gar nicht Azzurro , sondern ein anderes von Adriano Celentano, Don ’t Play that Song for me , und später fragte er sich, ob es sich wirklich nur um einen Irrtum gehandelt hatte oder ob seine Hand von etwas geführt worden war, von seinem Unterbewusstsein vielleicht.
    Simone trank einen Schluck von ihrem verdünnten Brunello di Montalcino. Bei den ersten Gitarrenakkorden von Adriano Celentano runzelte sie die Stirn. Sie trank nicht weiter, ließ das Glas aber auch nicht sinken. Über den Rand hinweg sah sie Van Leeuwen an, und er sah sie an, und obwohl er unsinnigerweise gehofft hatte, es wäre anders, wusste er, es war wie meistens, wenn er zwar sie sah, sie aber nicht ihn.
    »Sandro«, sagte sie überrascht.
    Er schüttelte den Kopf. »Celentano«, sagte er.
    » Don’t play that song for me «, sang Celentano, » it brings back memories «, und etwas später sang er, » you know that you lied «, und noch einmal, » you know that you lied «, und Van Leeuwen fragte sich, warum es in Schlagern immer so übertrieben zugehen musste. Wahrscheinlich, weil sie nur so wenig Zeit hatten, ihre Geschichte zu erzählen, und von jedem verstanden werden wollten. Ein Mörder, einmal gestellt und zum Reden gebracht, hatte dagegen alle Zeit der Welt für seine Geschichte, und wenn er fertig war, fand man am Ende oft nicht einmal mehr einen Mord übertrieben.
    Simone fing an, leise vor sich hin zu reden und dabei immer wieder kurz aufzulachen. Van Leeuwen verstand nicht, was sie sagte. Er hätte es auch nicht verstanden, wenn ihre Stimme lauter oder die Musik leiser gewesen wäre. Das verwirrte ihn längst nicht mehr; es gab Momente, in denen er das Gefühl hatte, an die Grenzen seines Verstandes zu stoßen, und dies war kein solcher Moment. Wenn sie lachte, sah sie aus wie früher, wie am Anfang ihrer Liebe. Ihre Augen wurden schmal, füchsisch hüteten sie ein ungeteiltes

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