Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Vergnügen. Aber dann schüttelte sie den Kopf und stand auf.
»Trinkst du deinen Wein nicht aus ?«, fragte er.
»Muss Sandro schreiben«, sagte sie.
»Welchem Sandro ?«, fragte er.
»Weißt du nicht mehr – Sandro ... ?«
Van Leeuwen sagte: »Wir kennen doch überhaupt keinen Sandro.«
Sie runzelte die Stirn, setzte sich jedoch wieder. Ihr Blick verlor sich in der Leere hinter ihren Augen.
» You know that you lied «, sang Celentano zum dritten Mal. Was willst du, dachte Van Leeuwen. Menschen lügen nun einmal, das ist so seit Kain und Abel: Bin ich der Hüter meines Bruders ... ? Nein, dachte Van Leeuwen, ich bin der Hüter meiner Frau. Ich bin ihre Erinnerung, die eine Hälfte der Biografie unserer Ehe. Ich bin das Bollwerk gegen den Verlust; der Damm, der die verlöschende Erinnerung zu stauen versucht, während die vergessene Zeit an mir nagt.
Und ich bin der Hüter aller Unschuldigen von Amsterdam, einschließlich der eingemeindeten Vororte.
»Ich habe heute mit einem Mädchen gesprochen«, sagte er. »Der Freundin des toten Jungen, von dem ich dir erzählt habe. Sie war so abgeklärt, ganz anders als wir damals. Weißt du noch, wie wir in dem Alter waren ? Wir hatten doch so viel Hoffnung, oder ? Wir waren glücklich. Heutzutage sind nicht mal mehr die Kinder glücklich, und ich frage mich, seit wann das so ist. An den Schulen gibt es inzwischen Sicherheitsdienste, Pförtner in Uniform, und am Eingang werden die Kids mit Metalldetektoren nach Waffen abgesucht.«
Simone antwortete nicht mehr; sie summte nur noch das Lied mit.
»Ich glaube, es liegt daran, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der man nicht mehr stolz ist auf das, was man dazu beiträgt, sondern nur noch auf das, was man herausholen kann«, spann Van Leeuwen seinen Gedankengang weiter. »Früher verdankte man sein Ansehen seiner Leistung, und heute verdankt man es dem, was man sich leisten kann. Wer am meisten konsumiert, genießt das höchste Ansehen. Selbst auf dem Schulhof kommt es schon darauf an, welcheKlamotten du trägst, auf das Image deiner Schuhe oder Pullover, was sie für eine Botschaft haben. Die wahren Dealer sitzen in den Werbeagenturen. Der Konsum ist die gefährlichste Droge, und sie zwingt uns alle in die Beschaffungskriminalität, früher oder später.«
Sein Glas war leer. Die Flasche stand in der Küche, aber er sah sich außerstande, heute noch einmal aufzustehen. Er warf einen begehrlichen Blick auf das Glas in Simones Händen. Sie hielt es in Höhe ihres Mundes, berührte es mit den Lippen, ohne zu trinken. Er fragte sich, ob er zum Alkoholiker geworden war, ohne es zu merken. Und wenn, wem er die Schuld in die Schuhe schieben konnte – seinem Beruf, der Krankheit seiner Frau oder sich selbst ?
Wenn er Simone ansah, wie sie da saß, mit abwesendem Blick und kurz geschnittenem Haar, dann wusste er noch, dass sie einmal alles gewesen war, was er sich je gewünscht hatte, und weil er es noch wusste und weil er auch noch genau wusste, warum, wurde er plötzlich so wütend, dass er sie am liebsten gepackt und geschüttelt hätte – wie konntest du so werden ?! Ich bin Polizist geworden, um deine Welt für dich sicherer zu machen; warum hast du die meine zerstört?
Aber während er noch die Wut in seiner Brust spürte, schämte er sich schon dafür. »Jetzt geh ins Bett«, sagte er heftig und stand abrupt auf. »Das wollest du doch schon vorhin. Andiamo! «
Er griff nach ihren Händen, um sie hochzuziehen. Ihre Nägel mussten dringend geschnitten werden, und unter den Rändern hatten sich Halbmonde aus Schmutz gebildet. »Warum hat Ellen dir nicht die Nägel geschnitten ? Kümmert sie sich denn um gar nichts mehr?«
Sie hörte den unterdrückten Zorn in seiner Stimme, und als wäre ihr dieser Zorn eine vertrautere Erinnerung als alles andere, kicherte sie fröhlich, anstatt zu erschrecken. »Nicht so schlimm«, sagte sie, »alles nicht so schlimm.«
Er hatte die Lösung geliebt; jetzt musste er mit dem Rätsel leben. » Andiamo. « Er sagte noch einmal das Zauberwort und nahm ihre Hand.
Das Telefon in seinem Arbeitszimmer klingelte. »Geh schon mal vor«, sagte er. »Ich komme gleich nach.« Er drehte sie mit dem Gesicht zum Schlafzimmer und gab ihr einen leichten Schubs. Folgsam setzte sie sich in Bewegung. Er ging in sein Büro, schaltete die Schreibtischlampe ein und meldete sich.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Sie könnten die Telefonseelsorge
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