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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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besser.«
    »Weißt du, was ich mir gerade gedacht habe ?«, sagte Gallo. »Wir drücken uns die ganze Zeit vor der wirklich wichtigen Frage.«
    Van Leeuwen schwieg.
    »Und die Frage lautet«, fuhr Gallo fort, »warum fehlt Kevins Gehirn ? Warum hat der Mörder das Gehirn des Jungen mitgenommen ? Was macht er damit ?«
    Van Leeuwen sah den geöffneten Gaumen und die leere Hirnschale wieder vor sich, und sein Herz zog sich zusammen. Die ganze Zeit hatte er versucht, den Anblick zu vergessen, aber jetzt war er wieder da. »Ich weiß es nicht«, sagte er.
    »Na ja, so oder so – wenn der Mörder heute Nacht zufällig auf den Gedanken gekommen wäre, an den Tatort zurückzukehren, hätten wir ihn durch unser Gerede jedenfalls wieder verscheucht, bevor wir ihn auch nur bemerken konnten.«
    »Eines Tages wird er genau da sein, wo ich auch bin«, sagte der Commissaris, »und dann werde ich ihn schnappen.«
    »Was Einstein wohl dazu sagen würde ...«
    »Einstein glaubte nicht an das Glück«, sagte Van Leeuwen. »Und außerdem war ich sehr wohl Messdiener.«

 9 
    Wenn der Commissaris sich an die Zeit erinnerte, in der er Messdiener gewesen war, kamen ihm stets dieselben Bilder in den Sinn. Einige davon – aus dem Zusammenhang der Vergangenheit gerissen, aber so deutlich wie Fotografien – zeigten einen großen, hageren Mann, meistens in ausgebeulten Kordhosen mit Hosenträgern, dungverkrusteten Gummistiefeln und einem grob karierten Hemd, die Ärmel hochgerollt. Tagsüber trug der Mann einen Hut, und bei der Arbeit wischte er sich oft mit dem nackten Unterarm den Schweiß vom wettergegerbten Gesicht. Im Schatten unter der Hutkrempe waren die Augen hell wie Kiesel im Wasser, und Spreu klebte in den Furchen des ausrasierten Nackens.
    Auf den Bildern hatte der Mann immer zu tun, er trug Eimer mit Schweinefutter über den Hof, er forkte Mist aus den Ställen, er spannte Pflug oder Rechen hinter den Haflinger, er hielt sich immer gebeugt, sogar beim Abendessen, und der Name dieses Mannes war Vater.
    Andere Bilder zeigten eine Frau, die Mutter des Messdieners, sie zeigten sie nie anders als in Rock und Bluse, selten ohne hellblaues Kopftuch oder dunkelrote Leinenschürze. Manchmal saß sie auf einem Melkschemel im Zwielicht des Stalls, wo sie mit kräftigen Griffen Milch aus den rosigen Zitzen der Kühe presste. Dann wieder stand sie am Herd, bückte sich zum Waschtrog oder steuerte den Traktor, aber wie der Vater wandte sie dem Betrachter häufig den Rücken zu, und beim Essen sank ihr Kopf genauso tief über den Teller.
    Abends war sie eine halbdunkle Silhouette, die sich auf die Bettkante des Messdieners kauerte, noch immer mit Schürze und Kopftuch, um ihm gute Nacht zu sagen und zu fragen, ob sie ihn zur Frühmesse wecken sollte. Unter dem Kopftuch schaute eine talgdunkle Strähne blonden Haars hervor, und sie roch nach Essen und nach der Arbeit des Tages. Wenn sie sprach, unterbrach sie sich oft mitten im Satz, führte den Gedanken nicht zu Ende, und ihr Blick blieb unergründlich.
    Solange Van Leeuwen sich erinnern konnte, hatte er seinen Eltern auf dem Hof geholfen, erst mit dem Vieh, später bei der Feldarbeit. Nach ein paar Stunden im Stall war er betäubt von der Ausdünstung der Tiere, ihrem schweren, süßen Geruch, der in jeder Ecke hing. Anfangs fürchtete er sich vor den Tieren, vor den Schnäbeln der Gänse, den Kopfstößen des Ziegenbocks, den Zähnen der Schweine und den Hufen der Rinder, aber sobald er einen Eimer tragen konnte, übernahm er die Fütterung, striegelte das raue Fell des Haflingers, kratzte den getrockneten Kot vom Bauch der Kühe, und schon fürchtete er sich nicht mehr so sehr.
    Der Rahmen für diese allmählich zahlreicher werdenden Momentaufnahmen war ein Bauernhof an der Amstel, nur wenige Kilometer von einem kleinen Dorf mit Namen Nes entfernt. Nes hatte nicht viel zu bieten, eine Kirche, eine Mühle, eine Wirtschaft, ein paar Häuser und einen Friedhof mit alten, moosbewachsenen Steinen. An einem Steg lag eine Fähre, mit der man über den Fluss setzen musste, wenn man zur Fernstraße wollte. Wenn er an die Fähre dachte, an das Ufer und an das Dorf, fiel dem Commissaris auch wieder ein, wie sehr das Wetter dort alles geprägt hatte, den Mann, die Frau, ihr Leben.
    Die Sommer brachten Stille und Trockenheit. Regen fiel nur kurz und heftig, und was nicht im Boden versickerte, wurde zu Dunst. Schon am Vormittag dörrte die Hitze das Blau aus dem Himmel; es war heißer damals. Über

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