Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
der Commissaris wissen und versuchte, nicht an das ausgebrannte Haus zu denken und auch nicht an den Jungen auf der Fensterbank.
»Es könnte sich um einen Ritualmord handeln«, sagte der Pathologe.
Van Leeuwen sagte nichts. Er drehte sich um und sah, dass Simone hinter ihm hergekommen war und auf der Schwelle des Arbeitszimmers stand. Seit sie krank war, hatte sie panische Angst davor, allein zu sein. Wenn er sie wegschickte, dauerte es nur wenige Minuten, bis sie ihm wieder folgte. »Commissaris ?«
»Ich bin noch da.«
»Bitte, halten Sie mich jetzt nicht für wahnsinnig«, die Stimme des Pathologen wurde so leise, dass seine nächsten Worte fast beiläufig klangen, »aber auf einigen dieser Inseln leben viele Bewohner noch in der Steinzeit, es sind Kopfjäger, Menschenfresser oder Zauberer.«
Van Leeuwen sog hörbar die Luft ein. »Alles in allem«, sagte er, »war es sehr weise von Ihnen, diese Überlegungen nicht in Ihren Bericht einfließen zu lassen, Doktor.«
»Das denke ich auch«, sagte Holthuysen, »und deswegen habe ich mitnichten vor, sie außer Ihnen noch jemandem mitzuteilen. Schließlich könnte der Splitter auch aus dem Tropenmuseum in derLinnaeusstraat oder aus dem Tropeninstitut der Universität stammen.«
»Ist das in der Nähe der Klinik ?«
»In Amsterdam ist alles in der Nähe von allem. Gute Nacht, Mijnheer.«
»Gute Nacht«, sagte der Commissaris. Er legte auf und sah zu seiner Frau hinüber, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte.
»Wir haben vielleicht einen Kopfjäger in der Stadt«, sagte er zu
ihr.
»Nicht so schlimm«, sagte sie freundlich.
10
Sie fuhren über die Nassaukade an der Singelgracht entlang in Richtung Haarlemmerplein, und wie immer saß der Commissaris auf dem Beifahrersitz und Hoofdinspecteur Gallo am Steuer. Die Platanen längs der Gracht lehnten sich gegen den frischen Wind. Ihre Blätter schimmerten im Sonnenschein wie abgegriffene Münzen, nicht zu grell, aber doch so, dass in der Luft ein stetiges Flirren und Blinken war. Ein Wetter, um Drachen steigen zu lassen.
Der Commissaris sah sich als Kind über die Wiesen am Amstelufer laufen, einen Drachen aus knatterndem roten Papier an einer kurzen Leine in seiner erhobenen Hand, bis der Aufwind den Rahmen packte und hochtrug und er den Drachen nur noch mit kurzen Rucken der Leine am Schweben halten musste. Wie eine gute Ermittlung, dachte er; vielleicht war ja Deniz der Aufwind, den sie brauchten.
»Sag mal, Ton, was weißt du über Kopfjäger ?«, fragte er. »Über Kopfjäger auf Papua-Neuguinea ?«
»Nichts«, sagte Gallo.
»Könntest du dir vorstellen, dass der Junge – Kevin – von einem Kopfjäger getötet wurde ?«
Gallo warf ihm einen Seitenblick zu, dann betätigte er den Blinker. »Nein.«
Van Leeuwen seufzte. »Ich rede auch nur so vor mich hin. Du weißt ja, der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.«
Gallo nickte und bog nach rechts auf die Brücke über die Singelgracht zum Haarlemmerplein. Linker Hand fingen die mächtigen weiß gestrichenen Stahlpfeiler der Eisenbahnzugbrücke das Sonnenlicht aus der Luft über der Gracht. Zwei Schnellzüge rasten über die Brücke wie endlose blau-gelbe Weberschiffchen. Gallo lenkte den Wagen an dem wuchtigen Triumphbogen auf dem Haarlemmerplein vorbei und unter dem Eisenbahnviadukt hindurch. Auf der anderen Seite folgten sie der schmalen, kaum befahrenen Planciusstraat bis zum Barentszplein.
In den kleinen Buchten zwischen den künstlichen Inseln zur Rechten lagen Hauskähne und Segelboote im stillen Wasser vor Anker. Daneben warteten abgewrackte Fischerkähne, von Rost überzogen, auf einen Dockplatz in einer der von Gestrüpp zugewucherten kleinen Werften. Das Wasser wetteiferte mit dem Himmel um die schnellsten Wolken, um das leuchtendste Blau. Zwischen den Häusern erhaschte Van Leeuwen einen Blick auf die ehemaligen Speicherhäuser der Ostindien-Kompanie, deren kunstvoll restaurierte Fassaden von Segelmasten und von Platanen in ungestümem Jadegrün unterbrochen wurden. Die großen Hallen, in denen früher Kanoneneisen gegossen und Teer gekocht worden war, beherbergten jetzt elegante Apartments, Künstlerateliers und Büros mit bunten, wie Segel aus Holz zugeschnittenen Fensterläden. Aber der Commissaris sah hinter die Fassaden, und er sah nicht die Architekten, Ingenieure und Bildhauer und auch nicht die Yuppies in durchgestylten Lofts; er sah Berge von Kautschuk, Tonnen von Gewürzen, Getreideballen, säckeweise Kaffee und Tee,
Weitere Kostenlose Bücher