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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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gefragt hatte, bevor er ihre Küche verlassen hatte.

 20 
    Es war eine von den guten Nächten.
    Als es dunkel wurde, spürte Deniz den weißen Ball kommen. Der weiße Ball kam in letzter Zeit immer öfter, und von Mal zu Mal war er schneller und größer. Im Schein einer flackernden Kerze kauerte der Junge mit nacktem Oberkörper auf seiner Matratze hinter den Kartons und biss auf das Ende des Gummischlauchs, den er mit der rechten Hand um den linken Unterarm schlang.
    Er fing schon an zu zittern. Erst zitterten nur seine Hände, aberdann griff das Zittern auf seinen ganzen Körper über, und er hatte Mühe, den Schlauch richtig festzubinden. Mach schon, dachte er, mach schnell, wie willst du sonst durch die Nacht kommen ?
    Mach endlich. Er pumpte sich Blut in die Vene und zog den über der Kerzenflamme aufgelösten Stoff in die Spritze. Obwohl ein kalter Wind durch das Dachgeschoss des Abbruchhauses fegte, stand ihm der Schweiß auf der Haut. Er hatte Mühe, die schwach pochende Ader in seinem mit Einstichnarben übersäten Arm zu finden. Kaum war die Spritze leer, löste er den Gummischlauch und ließ sich mit einem Seufzer zurücksinken.
    Er spürte, wie seine Handflächen zu kribbeln begannen, und etwas später kribbelten seine Beine, und er hörte auf zu zittern, und der kalte Schweiß auf seiner Haut trocknete. Er zog die Nase hoch und lächelte. Allmählich löste sich der weiße Ball auf, und jetzt wusste Deniz, dass es eine von den guten Nächten war. Den ganzen Tag hatte er Angst gehabt, es könnte wieder eine von den schlechten Nächten werden, in der nichts und niemand den weißen Ball aufhalten konnte; in der er den Tod sah, der auf ihn zurollte und ihn unter weißer Kälte begrub.
    Aber dann hatte Robbie ihm ein bisschen Stoff von einem ihrer Freier gebracht, nicht viel, nur genug, um die Lunte an seinem Herzen anzuzünden. Es war immer so, er brauchte ein bisschen Stoff, um an mehr Stoff zu kommen, das war das System. Er hatte an Kevin gedacht, der sein bester Freund gewesen war. Er glaubte nicht, dass Kevin wirklich tot war, denn er konnte ihn noch um sich spüren. Ganz in seiner Nähe.
    Es ging ihm jetzt wieder so gut, wie es einem nur gehen konnte. Er sprang auf, wusste auf einmal nicht, wohin mit seiner Energie. Am liebsten hätte er etwas zerbrochen oder zerschlagen oder mit seinen Zähnen zerrissen. Wie ein ungezähmtes Pferd, das mit den Hufen gegen die Bretter seiner Box keilt.
    Er fuhr in ein schwarzes Sweatshirt, stopfte es in die Jeans und bückte sich nach seiner Lederjacke. Der Rucksack stand neben dem Fußende der Matratze. In dem Rucksack steckten fünfzehn Sprühdosen mit matten und glänzenden Farben, ein Sortiment Ventilezum Austauschen, eine Lampe, ein Paar Handschuhe, mehrere Lappen, ein Schlüsselbund und die Skimaske, damit man ihn nicht erkennen konnte, falls er beim Sprayen in der Metrostation von einer Videokamera aufgenommen wurde.
    Er blies die Kerze aus und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er hörte ein Geräusch, aber das bedeutete nichts, denn in einem Haus wie diesem gab es dauernd irgendwelche Geräusche, vom Wind oder den Tauben oder den Ratten. Er fuhr mit den Armen unter die Träger des Rucksacks, kletterte über die Leiter in das darunterliegende Stockwerk und rutschte an dem Seil hinunter ins Erdgeschoss.
    Durch die Ritzen in den mit Brettern vernagelten Fenstern konnte er sehen, dass der Polizeiwagen noch immer vor dem Haus stand. Die Leute, die darin saßen, konnte er nicht erkennen, trotzdem wusste er, dass sie da waren. Sie standen unter einer kaputten Laterne und dachten, sie wären unsichtbar. Tatsächlich war er unsichtbar.
    Im Dunkeln stapfte Deniz durch das, was früher einmal eine Schusterwerkstatt gewesen war, schob das lose Brett in der Türverschalung zur Seite und schlüpfte hinaus in den Hinterhof. Draußen wurde ihm erst ein bisschen schwindlig, und einen Moment lang fürchtete er, dass er vielleicht wieder umkehren musste. Dann dachte er an sein Ziel, und es ging ihm gleich besser. Unsichtbar überquerte er den Hinterhof, kletterte auf den Schuttcontainer am anderen Ende und anschließend über den Maschendrahtzaun.
    Der Zaun gab ein leises Scheppern von sich, als er daran hochkletterte und sich auf der anderen Seite wieder hinunterließ. Es war das einzige Geräusch, das er verursachte. Auf dem angrenzenden Hinterhof ging er an mehreren Garagen vorbei. Er kannte den Weg inzwischen so gut, dass er sich immer

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