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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Neugier. Ihre Neugier war größer als ihre Angst, obwohl sie bestimmt wussten, dass das, was sie dort fanden, sie tagelang verfolgen würde, bis in den Schlaf hinein – ein schwer verletzter oder toter Mann in einer Lache aus Blut, vielleicht verstümmelt, Blut auf dem Boden und Blut an den Wänden und ein abgeschnittener Finger oder ein ausgedrücktes Auge oder ein Ohr, das irgendwo lag.«
    Julika rauchte und stocherte mit der Gabel in den restlichen Spaghetti auf ihrem Teller herum, schob sie in der Tomatensauce hin und her, zerteilte eine Zucchinischeibe, ohne sie zu essen.
    »Bei mir war die Angst immer größer als die Neugier«, sagte sie. »Statt nachzusehen, rannte ich nach Hause, und auf dem ganzen Weg hörte ich diese Schreie, und als ich daheim war, lief ich in unser Zimmer, das von meiner Schwester und mir, und da versteckte ich mich im Schrank. Ich kauerte mich unten auf den Boden, zog die Tür zu und hielt mir die Ohren zu. Das ging ein paarmal so, aber der Schrank beschützte mich nicht, er gab mir keine Sicherheit, die Schreie hörten nicht auf. Es lag daran, dass ich nicht hingeschaut hatte. Ich hatte nur meine Vorstellung, nur meine Phantasie, und was die sich ausmalten, war hundertmal schlimmer als der Anblick, vor dem ich weggelaufen war. Es hatte hundert blutige Gesichter statt nur eins.«
    Van Leeuwen hörte ihr zu und stellte sich das Kind vor, das sie gewesen war, und dann dachte er an Kevin und den Hoofdcommissaris und dessen Bruder, und er fragte sich, was mit der Welt los war. Hatte denn heute jeder Angst ? Verbargen sich in jedem Haus Versehrte und Verstümmelte, lauter geheime Gespenster ?Julika trank einen Schluck von ihrem Rotwein, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme anders, ruhiger.
    »Eines Tages wollte ich dieses Kind nicht mehr sein, und ich wollte auch nicht die Erwachsene sein, die aus diesem Kind vielleicht geworden wäre. Ich wollte nicht mehr weglaufen und mich meiner Phantasie ausliefern, statt hinzusehen. Und ich wollte dafür sorgen, dass niemandem mehr solche Schmerzen zugefügt werden, dass niemand mehr so sterben muss, im Keller eines fremden Hauses. Dass Kinder auf der Straße spielen können, ohne solche Schreie hören zu müssen. Deswegen bin ich Polizistin geworden.«
    »Das ist ein guter Grund«, sagte Van Leeuwen.
    »Aber um das zu erfahren, sind Sie doch nicht gekommen, oder?«
    »Nein. Ich bin hier, weil ich in Ihrer Akte gelesen habe, dass Sie fließend Italienisch sprechen. Ich möchte, dass Sie etwas für mich übersetzen.« Er griff in die Brusttasche seines Sakkos und holte die Briefe hervor. Seine Hand zitterte, aber so schwach, dass sie es vielleicht nicht merkte.
    Er legte die Briefe ohne die Kuverts auf den Tisch, genau in die Mitte, und er war sich bewusst, dass ihr Verhältnis von nun an und für immer ein anderes sein würde, wenn sie einen davon nahm und las.
    Julika griff nach den zusammengefalteten Briefen und breitete sie vor sich aus wie Spielkarten. »Hat das was mit unserem Fall zu tun?«
    »Nicht direkt«, antwortete der Commissaris ausweichend. »Aber es ist trotzdem wichtig.«
    Sie überflog den ersten, dann den zweiten. »Das sind Liebesbriefe«, sagte sie überrascht.
    »Ich weiß«, sagte er. »Könnten Sie mir bitte sagen, was drinsteht ? Lesen Sie sie mir einfach vor.«
    Julika drückte ihre Zigarette aus. »Die Anrede ist klar, oder ? Amore mio – das heißt, ›meine Liebe‹ oder ›meine Geliebte‹, aber auch ›mein Geliebter‹. Du bist erst einen Tag fort, und schon sehne ich mich nach dir ... nach deinen Augen ... deinem Mund ... und baci, dassind Küsse – nach deinen Küssen und deinen – deinen Berührungen
und danach, wie mein Herz unter ihnen – entschuldigen Sie, ich
muss erst wieder reinkommen – aufblüht ? Etwas schwülstig, oder ?«
    »Den Kommentar können Sie sich für später aufheben«, sagte Van Leeuwen.
    » Wir haben uns die ganze Nacht geliebt «, fuhr Julika zögernd fort, » und am Morgen, heute Morgen, bist du gefahren, aber ich bin gar nicht müde. Die Erinnerung an dich ist hellwach in mir, und wenn du jetzt da wärst, würde ich dich noch einmal lieben, ich müsste dich überall berühren, streicheln, küssen, immer wieder und an all den Stellen, die uns so viel Lust bereiten. « Sie stockte. » Am liebsten würde ich dir die Haut vom Körper lecken, um ganz tief in dein Innerstes zu dringen, tiefer, als ich es mit meiner Zunge oder meinem cazzo , also meinem Schwanz, kann. Ich will an dein

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