Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
zurechtfand, bei Tag und bei Nacht. Kurz bevor er das Tor zur Straße erreichte, hörte er den Drahtzaun noch einmal scheppern. Ein Windstoß , dachte er.
Er ging die Grote Bickerstraat am Westerdok entlang. Außer ihm war niemand hier unterwegs, nicht mitten in der Nacht. Nachts gehörte diese Straße ihm allein, wie er es mochte. Es war ruhig; es gab keine Stimmen. Nur das Rauschen der Blätter hoch oben in denUlmen und das Wasser, das gegen die vor Anker liegenden Schleppkähne und gegen das Ufer schwappte.
Wenn er über den Damrak, die Damstraat oder die Kalverstraat ging, dann war es, als schaltete er den Fernseher ein: Er hörte Stimmen. Sie sprachen zu ihm aus Gameboys, Computern, Uhren, Lederjacken, Motorrädern und DVD-Playern. Sie redeten mit den rot geschminkten Lippen der Models aus der Werbung, mit ihren manikürten Händen, ihren verführerischen Gesten und ihren tiefen Blicken, dem Duft der teuren Parfums.
Am Anfang hatte er sich den Stimmen gegenüber taub gestellt, aber sie waren beharrlich geblieben, du bist nichts ohne uns, wir sind die Welt, dein Leben, wir sollten dir gehören, aber wir tun es nicht. Er hatte kein Geld, um für die Welt zu bezahlen, also musste er sie sich nehmen, sie erobern. Er war hungrig; er liebte und begehrte genug, um ein Risiko einzugehen. In seinen Adern floss Piratenblut. Wenn etwas sagte, nimm mich, hol mich, wenn es ihm gehören wollte, dann erfüllte er ihm diesen Wunsch.
Er nahm es mit auf seine Schatzinsel.
So war es in den guten Nächten. Aber es gab auch die schlechten, und in denen konnte er keinen Schritt tun, ohne dass er am liebsten geschrien hätte. Wie ausgehöhlt bewegte er sich dann unter den herausgeputzten Passanten vor den teuren Geschäften, sah die Leute aus der Werbung in coolen Restaurants vor Tellern mit kleinen Portionen sitzen, während sich sein Magen zusammenzog. Er trat gegen die Luxuslimousinen auf den reservierten Parkplätzen, denn er wusste, es waren nicht seine Autos, nicht seine Kleider, nicht seine Restaurants, und sie würden es nie sein.
In diesen Nächten stand der Atem schwer wie Blei in seiner Brust, wie ein erstickendes Gewicht. Dann stellte er sich vor, wie er der Stadt den Krieg erklärte, wie er durch die Straße marschierte und alles in Schutt und Asche legte – Uhren, Designerklamotten, Autos und die Menschen, die nicht genug davon kriegen konnten.
Er zerschlug die Neonröhren, trank das Licht und spuckte Flammen auf die Scherben.
Aber heute war eine von den guten Nächten. Der Himmel wartiefblau und klar, und als hätte er’s bestellt, tutete weit draußen auf dem Ijsselmeer ein Nebelhorn. Willst du wissen, wie Freiheit klingt? , hatte Kevin einmal gefragt. So . Deniz hörte das Nebelhorn und dachte an Kevin, und plötzlich war ihm zum Heulen zumute.
Er dachte das Wort tot , und zum ersten Mal hatte es eine Bedeutung für ihn. Noch nie war jemand gestorben, den er kannte; nur im Kino hatte er Leute sterben sehen, wenn sie von Kugeln oder Schwertern oder Laserwaffen getroffen wurden. Allerdings ging es da immer ganz schnell, sie rannten in einen violetten Strahl und verschmorten, bevor sie sich auflösten. Tot , dachte er, tot.
Er ging vorbei an den alten Fabrikhallen, zwischen denen er die fernen Positionslichter der Kräne draußen an den Kais sehen konnte und die Silhouetten der Frachter auf ihrem Weg durch den Noordzee Kanaal. Plötzlich schauderte ihn. In seiner Brust tat sich ein Loch auf, und er empfand einen Schmerz, der anders war als jeder Schmerz, den er kannte. Ein heißes Sehnen erfüllte ihn, gemischt mit Scham, er wollte nicht, dass Kevin tot war. Überrascht merkte er, dass er weinte. Sein ganzes Gesicht war nass. Die Tränen rannen kitzelnd über seine Wangen, während er durch die ausgestorbene Straße und über die Zugbrücke an der Realengracht stapfte, deren Schatten wie ein Galgen auf dem Pflaster lag.
Er erinnerte sich, wie sie das letzte Mal draußen bei den Pferden gewesen waren, auf der Rennbahn, Kevin und Tic und Robbie und er. Er erinnerte sich an das Lachen in Kevins Augen, an ein Pferd namens Spinoza, das sie angefeuert hatten. Nach dem Rennen war Kevin zu dem Schimmel gegangen und hatte sein Gesicht an den schweißflockigen Pferdehals gepresst.
Ein Pferd, dachte Deniz; ein kobaltblauer Himmel und ein Silbermond und darunter ein Pferd, das den Ozean durchpflügt wie ein Schiff, mit einem zinnoberroten Feuer im Bauch. Pferde hatte Kevin mehr gemocht als alles auf der Welt, fast mehr
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