Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
als Tic. Und darunter sein Name, als Vermächtnis, Kevin . Während er ging, hörte Deniz schon das Zischen des Treibgases aus der Dose, roch den berauschenden Duft der Farben, genoss das Vorgefühl seiner heimlichen, schnellen Macht.
Muss dir nicht nach Heulen sein, dachte er, Kevin ist tot, und du lebst, das ist alles. Hat nichts mit dir zu tun, dass er umgebracht worden ist. Ist schließlich eine von den guten Nächten. Und wenn du es schaffst, vom Stoff wegzukommen und Robbie von der Straße zu kriegen, werden auch die Tage gut. Einfach ein paar gute Tage, das ist das Einzige, was du Kevin schuldest.
Der weiße Ball war zu einem Nichts geschmolzen. Trotzdem hielt Deniz sich dicht bei den Häusern, trat nicht ins Licht der Straßenlaternen. Einmal, kurz vor dem Basketballplatz an der Elandsgracht, blieb er abrupt stehen und tat, als müsste er die Schnürsenkel seiner Sneakers nachziehen, um zu sehen, ob ihm jemand folgte.
Der Schatten war da und sofort wieder verschwunden, und Deniz dachte, eine Wolke .
Vor ihm ragte der Eisenbahnviadukt auf, ein schwarzer Wall, über den die Schnellzüge mit gelb flackernden Fenstern donnerten. Er huschte an den Gittern des Basketballplatzes vorbei zum Eingang der Arkaden unter dem Viadukt. In den Bögen lagen Büros und Geschäfte, alle geschlossen, die meisten mit Eisenjalousien verrammelt. Ein schmaler Betonweg mit dicken Pfeilern führte an den dunklen Fenstern vorbei von Bickerseiland zum Haarlemmerplein. Wie ein langer Balkon hing er über dem leise schmatzenden Wasser der Elandsgracht. Die Platanen jenseits der Gracht schüttelten sich im Nachtwind.
Noch einmal warf Deniz einen Blick zurück auf den leeren Platz hinter sich. Rasch kletterte er auf die Brüstung des Betonstegs und schwang sich an dem mit Eisenstacheln bewehrten Gittertor vorbei, das von einer kaputten Videokamera beäugt wurde. Um ein Haar hätte er sich an einem der spitzen Stacheln aufgespießt. Er blieb hängen, riss sich los und spürte ein scharfes Brennen, wo der Stahl seine Haut aufgeschürft hatte. Macht nichts, so was spürst du doch gar nicht . Geduckt lief er über den schmalen Betonsteg, im Schatten der Pfeiler, vorbei an den großen Glasfenstern leerer Büros, leerer Läden, leerer Geschäfte, grauen Yuppiehöhlen, die noch niemand bezogen hatte.
Dann fand er, was er gesucht hatte. Ein großer Raum, noch nichteinmal gestrichen, hinter einem riesigen Schaufenster. Er blieb stehen, schaute sich um, lauschte. Über seinem Kopf raste ein Zug vorbei, ratterte auf den Schwellen, Licht flog glitzernd über die Bucht und über das schäbige Inselufer auf der anderen Seite, ohrenbetäubend. Er konnte nichts hören, und was er sah, war nicht wirklich: der Schatten, der hinter ihm von einem Pfeiler zum nächsten glitt.
Mit einem heftigen Ellbogenstoß zerbrach Deniz die Scheibe des Ladens, der noch kein Laden war, und duckte sich weg, während die Scherben zu Boden prasselten. Über die Glassplitter stieg er in den großen, kahlen Raum. Vor der Rückwand blieb er stehen und ließ den Rucksack von den Schultern gleiten. Er holte die Grubenlampe heraus, schaltete sie ein und stellte sie so auf den Boden, dass sie die Betonwand anstrahlte. Dann nahm er die Dosen, die er als erste benötigte, aus dem Rucksack und baute sie vor sich auf. Rot, blau, schwarz und gelb, seidenmatt oder glänzend, er konnte die Farbtöne fast mit geschlossenen Augen unterscheiden. Er fing mit den groben Spraydüsen an, für die großen Flächen.
Er holte den Walkman aus dem Rucksack, befestigte ihn am Gürtel, stöpselte die Kopfhörer ein und drückte die Starttaste. Der Techno-Beat explodierte zwischen seinen Schläfen.
Einige Herzschläge lang stand er nur da, mit geschlossenen Augen, um auf seiner Netzhaut zu sehen, wonach ihm war, und als er es sah, wusste er, dass es tatsächlich das Pferd war, ein Pferd mit Feuer im Bauch.
Er griff nach den Dosen mit Zinnober und Purpur, hielt sie in beiden Händen und begann im Rhythmus der Musik aus seinem Walkman zu tänzeln. Zuerst den Rücken, dachte er und zog einen roten Bogen über die Mauer, vom Hals bis zum Schweif. Aus dem feinen Nebel entstand ein dicker roter Farbstreifen, den er mit weit schwingenden, kreisenden Bewegungen zum Leib ausformte, auf den er später kräftige Muskeln aus dunklerem Violett und Schwarz packen würde.
Die Dosen waren mit seinen Händen verwachsen, sie bündelten seine Energie und schossen sie auf die Mauer. Als er die frische,glänzende
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