Und was, wenn ich mitkomme?
Frühstück. Über ihre Kaffeetassen hinweg schauen sie sich ins Gesicht.
»Nun?«, hakt sie nach. Doch er weiß nicht, was er antworten soll.
Sie stellt ihre Tasse ab und nimmt den Faden wieder auf: »Ich habe lange nachgedacht und gründlich recherchiert. Für ein freiwilliges soziales Jahr bin ich zu alt. Ich finde es auch unfair, einen Platz zu besetzen, der eigentlich jungen Leuten zusteht. Außerdem ist ein Jahr für mich sowieso zu lang... ich würde zu viel aufgeben müssen, was ich mir in den letzten Jahren mühsam aufgebaut habe... meine Arbeit... ich würde mich bloß selber bestrafen...«
»Was willst du eigentlich?«, fährt er dazwischen.
Wie kann sie es ihm bloß verständlich machen? Aber vielleicht muss sie das gar nicht. Vielleicht genügt es, ihm ihre Gedanken mitzuteilen, egal, was er daraus macht.
»Ich will leben, was ich bin«, sagt sie.
»Tust du das nicht?«
»Ich glaube nicht.«
Er dreht seine Kaffeetasse in den Händen ohne zu trinken. Der Kaffee wird kalt werden. Heute ist es egal. Sie forscht in seinen Augen, die sie ernst anblicken. Irgendwie wirkt er verunsichert.
»Was bist du denn?«, fragt er schließlich.
Endlich ist sie raus, diese Frage, auf die sie so lange gewartet hat. Sie könnte ihm jetzt Romane erzählen, endlich ihre Gedanken vor ihm ausbreiten. Aber sie haben keine Zeit dafür, er muss zur Arbeit. Und außerdem: Zeigt sich die Wahrheit nicht viel mehr im Handeln als im Reden? Sie hat so oft geredet, erklärt, erläutert und beleuchtet, ohne dass sich deswegen irgendetwas geändert hätte. Sie ist müde darüber geworden, und das will sie jetzt nicht mehr.
»Wir werden sehen«, sagt sie.
»Und deshalb musst du unbedingt weg?«
»Ja, ich will den Rahmen wechseln. Ich kann nicht ein neues Bild von mir zeigen im alten Umfeld. Das habe ich versucht, aber es hat mir keiner geglaubt. Am schlimmsten ist, dass ich mir mittlerweile selber nicht mehr vertraue. Ich habe den Eindruck, in meinem eigenen Leben nicht mehr vorzukommen. Das will ich ändern.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Ich will mich wieder spüren und Zutrauen zu mir finden. Ich will wissen, wo meine Möglichkeiten und wo meine Grenzen sind und was ich wirklich zum Leben brauche. Und ich will unerreichbar sein... «
»Und wie willst du das alles unter einen Hut bringen?«
»Indem ich wandern gehe«, sagt sie.
»Wie stellst du dir das vor? Wo willst du schlafen, und was soll das kosten?«, sprudelt er seine Vorbehalte heraus.
»Keine Sorge, ich werde unsere Haushaltskasse nicht mehr belasten als sonst auch«, entgegnet sie.
»Und wie soll das funktionieren?«
»Spanien«, sagt sie, »Jakobsweg.«
Auf diese Möglichkeit ist sie im Internet gestoßen. Vorher hat sie nicht einmal gewusst, dass es so etwas gibt, Wege, die sich spinnennetzartig durch Europa ziehen und nur ein Ziel haben: Santiago de Compostela in Spanien, das Grab des Apostels Jakobus. Doch sie wird nicht wegen dieses Heiligen unterwegs sein. Ihr Ziel ist es, ihr eigenes Leben einzuholen oder es hinter sich herkommen zu lassen. Sie will die Gelegenheit haben, alles, was sie bewegt, in Ruhe und ohne Ablenkung zu Ende zu denken, und — anders als die meisten Jakobspilger — Gott nicht suchen, denn den hat sie längst gefunden, sondern in neuen Herausforderungen erleben, was es mit seinen Versprechungen auf sich hat.
Er ist skeptisch. Womöglich will er aber auch nur ihren Entschluss ins Wanken bringen. »Ist das nicht gefährlich?«
»Ich glaube nicht. Vielleicht ist es ein Abenteuer«, gibt sie zu, »aber kein echtes Wagnis. Die Wege sind mit gelben Pfeilen ausgeschildert oder mit blauen Kacheln mit Jakobsmuschel drauf. Ich habe gelesen, dass die Bevölkerung aufmerksam und hilfsbereit ist. Es gibt Herbergen in Abständen, die sich bewältigen lassen, wo man für bloß ein paar Euro übernachten kann. Und in jedem Ort kann man Wasser und Vorräte kaufen. Außerdem ist Spanien nicht die Wüste und schon gar nicht ein ferner, fremder Planet. Tausende gehen jedes Jahr diesen Weg, die meisten den sogenannten Camino Francés.«
Sie merkt, wie sie anfängt zu dozieren. Es kann sein, dass er ungeduldig werden wird. Aber sie kann es nicht lassen und redet sich in Rage: »Der Camino Francés führt von Saint-Jean-Pied-de-Port dicht hinter der französischen Grenze über die Pyrenäen nach Roncesvalles und weiter über Pamplona, Logroño, Burgos und Leon bis nach Santiago. Es gibt aber noch eine Menge anderer Jakobsrouten, über die
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