Und was, wenn ich mitkomme?
ich nur wenig Informationen gefunden habe, den Camino Primitivo zum Beispiel, der über Oviedo verläuft, oder den Küstenweg über Ribadeo. Ich habe auch was über den Camino Inglés entdeckt, der von Ferrol bis Santiago führt. Der englische Weg verdankt seinen Namen den Pilgern, die von England über die Biskaya nach Ferrol schipperten und sich von dort weiter nach Santiago aufmachten. Aber der ist für mich zu kurz, nur etwa 120 km, die man schon in sechs Tagen schaffen kann.«
»Wie lange willst du denn wegbleiben?«, schnaubt er.
»Zwei Monate.«
Er fährt zusammen und starrt sie aus großen Augen an.
»So lange?«
Beruflich war er oft ohne sie unterwegs gewesen, zugegebenermaßen niemals zwei Monate an einem Stück, aber manchmal wochenlang. Sie hat es hingenommen, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl sie es niemals so gewollt hat. Sie hat ihn immer vermisst.
»Ja, so lange«, bestätigt sie.
Behutsam stellt er seine Tasse auf den Tisch, steht auf und wendet sich der Tür zu. Es ist spät und er muss zur Arbeit. Doch anstatt zu gehen, dreht er sich plötzlich, einem spontanen Einfall folgend, zu ihr um.
»Was hältst du davon, wenn ich mitkomme?«
So hat sie sich das nicht vorgestellt. Sie wollte dieses Erleben für sich allein haben. Aber jetzt fühlt sie sich überrumpelt.
»Ich kann dir nicht verbieten, durch Spanien zu laufen wann und wie lange du willst«, presst sie hervor. Doch klein beigeben will sie auch nicht. »Ich kann mir bloß nicht vorstellen, dass du so lange Urlaub bekommst.«
»Wir werden sehen«, sagt jetzt er und geht.
*
Noch am selben Abend steht es fest: Sie werden zusammen weg sein. Er hat sofort mit seinem Chef gesprochen und die Zustimmung erhalten, den diesjährigen Urlaub aufzusparen, um dafür nächstes Frühjahr zwei Monate frei zu bekommen. Ob sie so lange auf ihn warten wird? Warum nicht. Sie hat ein Leben lang geübt, Abstriche zu machen. Jetzt kann sie nicht plötzlich damit aufhören.
Es stehen ihnen Monate ohne Erholungsphasen bevor. Die wenige freie Zeit ist vollgestopft mit Planen und Organisieren. Sie kaufen sich Ruck- und Schlafsäcke, Wanderstöcke, Sonnenhüte und knallrote Regencapes. Sie lassen sich von der Fränkischen St.-Jakobus-Gesellschaft in Würzburg Pilgerausweise ausstellen, die sie dazu berechtigen, in allen Pilgerherbergen kostengünstig zu übernachten. Sie unternehmen lange Samstags-Wanderungen und laufen sich Fersen und Schuhe weich. Sie reiben sich abends die Füße mit Hirschtalg ein.
Jeder von ihnen legt sich drei Unterhosen, drei Paar Socken, zwei leichte Wanderhosen, Fleecejacke und Anorak zurecht, dazu ein paar T-Shirts, eine winzige Reiseapotheke, Ohropax, Waschzeug, das in eine Zipperplastiktüte aus dem Drogeriemarkt passt, zwei zu Handtüchern umfunktionierte Microfaser-Bodenwischtücher und Sonnencreme, was zusammen knapp neun Kilo ergibt. Sie probieren aus, wie sich das Gewicht auf dem Rücken anfühlt. Sie beschaffen sich Literatur über den Jakobsweg, über das Wandern im Allgemeinen und über Spanien im Besonderen. Sie forschen im Internet nach Pilgerberichten und erfahren, wie überlaufen der Camino Francés ist. Sie sind sich einig, dass sie keine Lust auf Gänsemärsche haben und auch nicht auf überfüllte Herbergen. Sie blättern in Landkarten und Atlanten und probieren in ihrer Fantasie unterschiedliche Routen bei Google Earth aus.
Die Landschaft Nordspaniens stellt sich auf den Computerbildern herb und schön und verlockend dar, eine Vision aus Bergen und Meer, Geschichte und Natur, aus Kraft und Traum. Sie entscheiden sich für den Küstenweg, der von Irun und San Sebastian über Bilbao, Santander und Gijon bis nach Ribadeo führt und von dort weiter über den Nordweg nach Mondonedo bis Santiago. Sie erschrecken über die Länge der Strecke: 840 Kilometer. Sie fürchtet sich vor den Höhenunterschieden, die auch direkt am Meer auf schweißtreibende Rackerei schließen lassen. Er wird seinen Fotoapparat vermissen. Aber sie haben beschlossen, auf jedwede Technik zu verzichten.
Auch das Handy wird zu Hause bleiben, obwohl dieser Entschluss Ängste in der Familie auslöst. Was ist, wenn jemand krank wird oder sonst irgendwie ihre Hilfe benötigt?
»Dafür gibt es Ärzte oder andere Fachleute«, hält sie ihren Lieben entgegen, die daraufhin schwerere Geschütze auffahren: »Und was, wenn einer von uns stirbt?«
Ihre Antwort könnte als herzlos aufgenommen werden. Sie sagt es trotzdem: »Lasst uns alles, was gesagt
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