Und weg bist du (German Edition)
Plötzlich hatte ich Angst, das dunkle Muster, das unter meiner Haut sichtbar geworden war, wäre lediglich eine darunterliegende Entzündung. Er stellte sich auf mein Handgelenk. Während ich auf seine glänzenden Schuhe starrte, musste ich unwillkürlich daran denken, dass sich Noah nie so albern kleiden würde.
»Ich brauche dich gar nicht umzubringen.« Er verlagerte sein gesamtes Gewicht auf mein Handgelenk, bis mir vor Schmerzen die Luft wegblieb. »Erst einmal schieße ich dir in die Hand. Wie wäre es damit?«
Als ich zu ihm aufblickte, sah ich, wie die Wand hinter ihm zu zittern und zu beben begann. »Bitte nicht«, flehte ich.
»Zu spät.« Er hockte sich nieder und hielt die Pistole an meine Handfläche.
Ich kniff die Augen zusammen, um mich für den Schuss und die unglaublichen Folgen zu wappnen. Doch dann wich Gerard plötzlich unter wütendem Fluchen zurück und mein Handgelenk war wieder frei. Ich öffnete die Augen und sah, wie er die Pistole fallen ließ. Schimpfend schüttelte er den Arm. Ich griff nach der Waffe, ließ sie jedoch sofort wieder los – sie war heiß!
Rückwärts taumelte Gerard gegen die aufquellende, wogende Wand. Entsetzt schrie er auf und versuchte zu fliehen, doch es gelang ihm nicht. Die Wand hielt ihn fest wie eine Fliege im Netz, und als er sich befreien wollte, umfloss sie ihn, als wolle sie ihn aufsaugen. Jetzt geriet er vollends in Panik, denn sie schnappte nach ihm, als wäre sie kurz davor zu verhungern und er das erste Essbare seit langer Zeit.
Gerard kreischte und auch ich begann zu schreien. Dann sprang ich auf und hastete aus dem Raum. Seine Angstschreie verfolgten mich durch den Flur, wo die Wände ebenfalls wogten und zuckten. Die Wasserflecken tanzten in irren, unheimlichen Bewegungen. Erschüttert floh ich in das Zimmer, wo früher die Mädchen geschlafen hatten. Jetzt befanden sich darin nur noch eine Bank und eine zertrümmerte Kommode. Löcherige Vorhänge rahmten die beiden Fenster ein. Dazwischen hing schief ein halb blinder Spiegel.
Dunkle Stellen breiteten sich auf den Wänden aus wie das Kreuz auf meinem Unterbauch. Mein Herz schlug so schnell, dass es dem Zerreißen nahe war, und doch konnte ich den Blick nicht abwenden. Plötzlich explodierte eine Fensterscheibe und Scherben regneten auf mich herab. Kreischend kauerte ich mich nieder und legte schützend die Arme um den Kopf.
»Aufhören!«, schluchzte ich. Ich hielt mir die Ohren zu, um dem tiefen Pulsieren zu entkommen, unter das sich Gerards entfernte Schreie mischten.
Die nächsten Minuten nahm ich nur bruchstückhaft wahr, bis die Wände ihr entsetzliches Beben schließlich beendeten. Als ich wieder aufblickte, sah der Raum aus wie immer, abgesehen von den Glasscherben auf dem Boden. Und Noah war da. Er kniete neben mir und sagte etwas. Vielleicht erkundigte er sich, ob bei mir alles in Ordnung sei. Genau wie an jenem Herbstnachmittag vor vielen Jahren, als Edgar mich fast umgebracht hätte, konnte ich wegen des Dröhnens in meinen Ohren nicht verstehen, was er sagte.
Zwei weitere Männer betraten eilig den Raum, einer von ihnen war Zachary Saulto. Ich schloss die Augen. Erneut spürte ich ein Stechen in der Seite, das mir den Atem raubte. Mit verkrampften Fingern griff ich nach der schmerzenden Stelle.
»Was ist los mit ihr, Sam?«, fragte Noah und es klang, als befände er sich in weiter Ferne.
Durch das Dröhnen in meinen Ohren hindurch vernahm ich die Stimme des zweiten Mannes: »Zeig ihr das Bild.«
Noah hielt mir die zerknitterte Zeichnung des mittelalterlichen Kreuzes mit Jacks Schrift darunter vor die Augen. »Das habe ich auf der Treppe gefunden, Jocey. Ist es von Jack?«
Ich nickte und meine Stimme stockte, als ich antwortete: »Aber er ist nicht hier.«
Der Mann kniete sich vor mich. Er war um die vierzig, hatte ein längliches Gesicht und hellgraue Augen. Zu einem dunklen Anzug trug er eine rote Krawatte, und als er mich ansah, kam er mir eigenartigerweise bekannt vor.
»Jocelyn, ich bin Sam Lessing, Jacks Chef. Ich möchte dir gern helfen. Weißt du, was er mit dieser Zeichnung sagen wollte? Ist sie wichtig?«
Ohne ihn zu beachten, wandte ich mich Noah zu. »Ich weiß, warum du bei mir geblieben bist. Du arbeitest nach wie vor für ISI. Wie konntest du mich anlügen? Ich dachte, wir würden dieses Ding gemeinsam durchziehen, für Jack.«
»Aber das tun wir doch.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie viel haben sie dir geboten, damit du das alles mitmachst?«
»Nicht
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