Und weg bist du (German Edition)
der Firma den Rücken zu kehren und zu verschwinden. Du musst Schreckliches ausgestanden haben, das tut mir sehr leid.
Jocey, ich weiß, dass du mich immer für den Stärkeren von uns gehalten hast, aber das bin ich nicht. Ich habe so viel Wut und Hass in mich hineingefressen, während du stets die Liebe und Gute gewesen bist. Ich reiße dich nur mit runter und tue dir weh, was ich auf keinen Fall will. Deshalb geht es dir besser ohne mich.
Bevor ich gehe, möchte ich dir noch sagen, dass mir immer bewusst war, wie sehr du leidest. Wenn du in dein Kopfkissen weintest, spürte ich deine Tränen auf meinem Gesicht. Und selbst vor meinem gefälschten Tod, der dir so viele Schmerzen bereitet hat, habe ich deine Verzweiflung gespürt. Zu lange habe ich deinen Zorn und deinen Hass für dich geschultert, während du für uns beide trauertest. Es ist Zeit, dass Du mich gehenlässt.
Jack
Mit tränenverschleiertem Blick schaute ich von dem Brief auf und ließ mich seufzend auf den Boden sinken. »Aber allein bin ich nichts«, flüsterte ich. Das Stechen in meiner Seite wurde wieder schlimmer.
Langsam faltete ich die Papierbogen, schob sie wieder in den Umschlag und wischte mir die Tränen ab. Ein weiterer schmerzhafter Stich ließ mich zusammenzucken. Ich verzog das Gesicht, wagte aber nicht, das mittelalterliche Zeichen auf meinem Körper anzusehen. Warum hatte Jack so viele Dinge offengelassen?
Ich hörte Schritte. Sofort rappelte ich mich auf, die Hand schützend auf meine Hüfte gelegt. Kam Jack doch noch?
Die Tür wurde aufgestoßen und ich versuchte zu erkennen, wer dort auf der Schwelle stand. Das Dämmerlicht, das durch die Fenster drang, war hell genug, um zu sehen, dass es ein Mann war und dass er eine Pistole auf mich richtete.
Vor mir stand Paul Gerard.
sechsunddreißig
DER FEIND
In den dämmrigen Schatten wirkte Gerards ebenmäßiges Gesicht mit seinem olivfarbenen Teint unheimlich und böse. Er lächelte. »Schön dich wiederzusehen.« Es klang so ruhig und beiläufig, als wäre es eine Gesprächseröffnung und keine Drohung.
»Wie geht’s der Schulter?«, erkundigte ich mich.
»Besser. Und dem Hals?«
»Auch besser.«
»Weißt du, ich muss zugeben, dass ich ziemlich beeindruckt bin von deinen Fähigkeiten. Du bist die cleverste kleine Schlampe, mit der ich je zu tun hatte. Nicht die hübscheste, aber die cleverste.«
»Na ja, wenn ich wählen müsste …«
Ich konnte den Satz nicht beenden, weil er mich an den Haaren packte und mir die Waffe unters Kinn schob. Sein wahnsinniger Blick erinnerte mich an Edgar und ich erkannte, dass ich mich hier nicht mehr rausreden konnte.
»Lass mich los.« Meine Stimme klang seltsam ruhig.
Er lächelte mit demselben übertriebenen Selbstbewusstsein, das er schon in der Galerie an den Tag gelegt hatte. »Gern, aber zuerst sagst du mir, wo sie versteckt ist.«
»Tut mir leid, aber das geht nicht.«
»Wo bleibt die Dankbarkeit, Jocelyn? Du schuldest mir etwas. Wenn ich den Jungen nicht erschossen hätte, wärst du erstochen worden.«
Sein großspuriges Geständnis ärgerte mich. Wie konnte er sich rühmen Georgie umgebracht zu haben, als wäre er ein Pfadfinder, der seinen Mitmenschen geholfen hatte?
»Also, wo ist sie?«
Ich sprach betont langsam, als wäre er schwer von Begriff. »Ich. Weiß. Es. Nicht.«
Paul Gerard wurde dunkelrot vor Wut und begann mich übel zu beschimpfen, mir in jeder Einzelheit zu beschreiben, was er mir anzutun gedachte. Er zog fest an meinen Haaren und riss meinen Kopf zurück, sodass mein Hals vor Schmerzen pochte. Seine Stimme wurde immer schriller. Spätestens jetzt verstand ich, warum sich Jack so vor ihm gefürchtet hatte. Da ich seinen wahnsinnigen Blick nicht ertragen konnte, richtete ich die Augen auf die zerfetzte Tapete und den abblätternden Putz. Doch die Wände hatten zu pulsieren begonnen und ich vernahm neben Gerards schrillen Drohungen das tiefe Dröhnen des langsam schlagenden Herzens, das mich bereits in meinen Albträumen von Seale House gequält hatte.
Er drückte die Pistole in meinen Hals und drohte mir unverhohlen, dass er meinen Kopf in tausend Teile zersprengen würde. Ich versuchte mit möglichst fester Stimme zu reagieren. »So findest du die Liste mit den Passwörtern nie.«
Er warf mich zu Boden und versetzte mir einen Tritt. Ich rollte mich zum Schutz zusammen. Der Schmerz in meiner Seite war fast unerträglich und ich fürchtete, der Tritt könnte einen Blinddarmdurchbruch verursacht haben.
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