...und wenn Du auch die Wahrheit sprichst
konnte.«
Jetzt hast du eine , drängte es Michaela zu sagen, doch sie unterließ es. Eine Freundin durfte sich nicht hinter Halbwahrheiten verstecken. »Konntest du denn mit deinem Vater gar nicht reden?«
»O doch. Und er hörte mir auch zu – wenn er mal Zeit hatte – zwischen Vorstandssitzung und Hotelneueröffnung. Aber diese Momente waren sehr selten.«
Der Kellner kam mit dem Essen.
»Verstehe, und damit es deinen Kindern nicht einmal genauso geht, willst du die Firma nicht übernehmen.«
Tanja senkte den Kopf. »Meinen Kindern?« Ihrer Stimme war deutlich die Verlegenheit anzuhören. »Ich habe ja noch nicht einmal einen Freund.« Sie schnitt ein Stück von ihrem Kalbsbraten ab.
Michaela schaute sie neckend an. »Was nicht ist, kann ja noch werden.«
Tanjas Verlegenheit amüsierte sie. Hatte sie nicht vor wenigen Minuten noch darauf bestanden, dass sie fünfundzwanzig und somit alt genug war, sich im Alltag zurechtzufinden?
Tanja schaute immer noch auf ihren Teller. »Veralbern kann ich mich allein. Ich weiß sehr gut, dass ich nicht besonders hübsch bin. Und dann mein Bein. Ergo laufen mir die Verehrer nicht gerade hinterher.«
»Aber nur, weil du deine Reize hinter einer unscheinbaren Fassade versteckst. Ich sehe deutlich einen kleinen Schwan unter dem Gefieder des Entleins. Dein Handicap dient dir doch nur als Ausrede.«
Tanja wurde rot. Sie sah Michaela an. »Wenn man so aussieht wie du, hat man leicht reden.«
Michaela hielt Tanjas Blick fest. »Ich wette mit dir, du kannst mich noch in den Schatten stellen.«
Tanja senkte erneut den Blick. »Du spinnst.«
Michaela zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.« Sie schwieg, widmete sich ihrem Essen. Dann sagte sie wie nebenbei: »Schade eigentlich.«
Tanja tat, als hörte sie es nicht. Doch Michaela entging nicht, wie Tanja verstohlen zu ihr sah. Sie hätte offensichtlich schon gern gewusst, was Michaela mit ihren Worten meinte, traute sich aber nicht zu fragen.
Michaela wechselte das Thema. Sie lobte das Essen und den Wein, schwärmte von Restaurants, in denen sie früher bereits vorzüglich gegessen hatte, stellte Vergleiche an. Dabei beobachtete sie Tanja, die ihr nur mit halbem Ohr zuhörte, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Michaela wusste auch, wo. Ihre Vermutung, Tanja interessiere sich vielleicht nicht so sehr für ihr Äußeres, traf nicht zu. Tanja wusste, dass Veränderung ihr gut zu Gesicht stehen konnte, nur traute sie sich nicht so recht aus ihrem Schneckenhaus heraus. Die so unerwartet angebotene Hilfe musste verlockend für sie sein, aber auch beängstigend.
»Langweile ich dich?« unterbrach Michaela ihren Monolog über Speisen und Weine und tat enttäuscht. Tanja beeilte sich, das Gegenteil zu versichern. Also redete Michaela weiter. Innerlich wartete sie gespannt, wie Tanja sich entscheiden würde. Tanja gab sich zwar alle Mühe, gelassen auszusehen und so zu tun, als habe sie Michaelas Bemerkung bereits wieder vergessen. Aber verschiedene Zeichen deuteten darauf hin, dass dem ganz und gar nicht so war. Die Kartoffeln rutschten ihr unter der Gabel weg, die Säge des Messers quietschte immer wieder über den Tellerboden, statt bei dessen Berührung stillzustehen, sie trank fortlaufend in Minischlucken von ihrem Wein.
»Glaubst du wirklich . . . wie hast du das mit dem in den Schatten stellen gemeint?« rang Tanja sich endlich durch. Um sich gleich darauf wieder zurückzuziehen. »Ach was, ich fühle mich wohl, so wie ich bin. Und überhaupt bin ich nicht der Typ für ein aufwendiges Outfit.«
»Warum lässt du es nicht einfach auf einen Versuch ankommen? Vielleicht gefällt es dir ja«, schlug Michaela vor.
»Ich weiß nicht.« Tanja schwankte immer noch. Es fiel ihr schwer zuzugeben, dass sie sich genau das schon oft gewünscht hatte. Nur fehlte ihr der Mut, etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Sie scheute die Kommentare im Anschluss, die Blicke, die sie auf sich ziehen würde. Das alles wäre ihr peinlich. Tanja hatte sich deshalb lieber eingeredet, sie wäre zufrieden mit ihrem Aussehen.
Michaela lächelte. »Aber ich weiß. Vertrau mir.« Kurz flackerte die Erkenntnis in Michaela auf, dass sie gerade dabei war, einen Teil ihrer Absprache mit Walter Kanter zu erfüllen. Aber deswegen tue ich es ja nicht , sagte sie sich. Ich tue es für Tanja. Sie hat es verdient, dass sich endlich mal jemand ihrer annimmt.
Ach, wirklich Michaela? widersprach eine Stimme in ihr, die es besser wusste. Ist
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