...und wenn Du auch die Wahrheit sprichst
im Salon – und erkannte Tanja kaum wieder. Nichts erinnerte mehr an das farblose Gesicht eines in der Menge verschwindenden Mädchens, deren empfindsamer Blick nur dem aufmerksamen Beobachter auffiel.
Vor Michaela stand eine ganz andere Tanja. Die Haare fielen ihr in fransigen Stufen spielerisch leicht ums Gesicht. Die tiefblauen Augen stachen ausdrucksstark hervor. Das dezente Make-up ließ Tanja erwachsener erscheinen.
Michaela blieb buchstäblich vor Überraschung die Sprache weg. Ein Ziehen drang durch ihre Brust, berührte ihr Herz.
»Bitte, da hast du sie zurück«, sagte Jana. »Und, zufrieden?«
Michaela schluckte. »Wahnsinn«, rutschte es ihr heraus. »Ähm . . . ich meine . . .« Sie kam ins Stottern, fühlte, wie sich ihr Gesicht mit Röte überzog. »Wenn das keine Veränderung ist.« Sie sah Tanja immer noch fasziniert an. »Du musst ein Namensschild tragen, damit deine Umgebung dich wiedererkennt.«
Tanja lächelte verlegen.
Jana nahm Michaelas Worte als Kompliment für sich. »Ich weiß, ich bin gut in meinem Job. Aber das Material war auch nicht schlecht«, meinte sie trocken und lächelte verschmitzt. »Jetzt noch ein paar geile Klamotten, und die Verwandlung ist perfekt.«
Michaela sah auf die Uhr. »Die Geschäfte machen erst in einer Stunde zu, vielleicht finden wir ja noch was.« Sie nickte Tanja aufmunternd zu. »Was sagst du?«
»Wenn du meinst.«
Sie winkten Jana zu, verließen das Geschäft.
»Ist Vanessa deine Freundin?« fragte Tanja, als sie beide auf der Straße standen.
Michaela hatte Janas Indiskretion schon wieder vergessen. Tanjas Frage erinnerte sie daran. War das ein Problem für Tanja? »Ja«, erwiderte Michaela vorsichtig, fügte nichts weiter hinzu. Tanja würde schon fragen, wenn sie mehr wissen wollte. Und richtig.
»Ihr seid zusammen? Ich meine – ein Paar?« fragte Tanja zögerlich.
Michaela nickte. »Ja, sind wir.« Damit war wohl alles geklärt. »Was hältst du von der Boutique da drüben?« Sie wies zur anderen Straßenseite und winkte Tanja mitzukommen. Die bewegte sich jedoch nicht vom Fleck. Michaela hielt notgedrungen inne. »Was ist?«
Tanjas Blick ruhte forschend auf Michaela. »Was sagt Vanessa denn dazu, dass du mit mir herumziehst?« Zögern. »Weiß sie davon?«
»Aber ja. Warum fragst du?«
»Ich frage mich einfach, warum du so nett zu mir bist, warum du das hier alles machst, was du von mir willst.«
Michaela fühlte sich unbehaglich. »Muss man denn immer gleich was vom anderen wollen?«
»Ja, normalerweise ist es so«, sagte Tanja nüchtern.
Erstaunt konstatierte Michaela: Sie ist vielleicht introvertiert, aber nicht weltfremd.
»Jana deutete an, dass Vanessa dich betrügt. Denkst du . . .« Tanja zögerte erneut. »Du . . . willst du sie eifersüchtig machen? Denkst du, das könnte deine Beziehung retten?«
»Nein!« Michaela schüttelte den Kopf. Da hatte Tanja sich ja was Tolles zurechtgelegt. »Wie kommst du denn darauf? Außerdem betrügt Vanessa mich nicht. Meine Beziehung ist in bester Ordnung.«
Tanja schlug die Augen nieder. »Entschuldige, ich wollte nicht persönlich werden.«
Michaela schmunzelte, legte ihren Arm um Tanja, lotste sie so zur Boutique. »Aber du darfst persönlich werden. Das ist völlig in Ordnung. Ich hoffe nur, nun, wo du weißt, wie ich – na ja – zu Frauen stehe, wirst du dich nicht von mir zurückziehen. Ich dachte, ich könnte deine Freundin werden. Ohne Hintergedanken.« Michaela schämte sich ihrer Lüge. Natürlich hatte sie Hintergedanken. Immer noch. Wider besseren Vorsatzes. Nur eben andere, als Tanja vermutete.
»Meine Freundin?«
»Ja, warum nicht? Du bist es nicht gewohnt, eine Freundin zu haben, aber glaub mir, das ist toll.« Michaela ließ Tanja wieder los, zwinkerte ihr zu. »So eine Freundin hilft einem zum Beispiel dabei, Klamotten zu kaufen. Sie sagt dir, ob ein Teil dich kleidet oder entstellt. Also los, lass uns das passende Outfit zu deinem neuen Ich finden.«
Sie betraten die Boutique. »Gilt das in beide Richtungen? Darf ich dir auch was aussuchen?« fragte Tanja.
»Wenn du willst. Aber nicht in dem Laden. Ich bin schließlich ein paar Jahre älter als du«, grinste Michaela.
»Wie alt bist du?«
»Sechsunddreißig.«
»Und Vanessa?«
»Zweiunddreißig, warum fragst du?«
»Nur so.«
»Willst du wissen, wie sie ist?«
»Nein.«
»Nein?« wunderte Michaela sich.
»Nein«, wiederholte Tanja. »Nicht nötig. Ich warte, bis ich sie kennenlerne.
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