Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Frédéric sich auf eine Bank. Er drehte sich nach allen Seiten um, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn beobachtete. Doch dann kam er sich albern vor. Der Park war beinahe menschenleer. Er öffnete die Schachtel und nahm die Fahrscheine und Eintrittskarten heraus.
Als Erstes schaute Frédéric sich die Zugfahrkarte an, die für den 15. Dezember ausgestellt war. Der Zug fuhr um 10:57 Uhr am Gare Saint-Lazare ab und erreichte um 11:31 Uhr das Ziel Eragny-Neuville. Auf der Fahrkarte standen die Nummer des Zuges, des Wagens und des Sitzplatzes.
Eragny. Frédéric lächelte. Beim Notar war er so überrascht gewesen, dass ihm der offenkundige Bezug zwischen den einzelnen Fahrscheinen und Eintrittskarten nicht aufgefallen war: die impressionistischen Maler. Natürlich wusste er, dass man in Giverny Claude Monets Garten besichtigen konnte. Und dass das Musée d’Orsay die weltweit größte Sammlung impressionistischer Werke besaß. Was sich hinter den Fahrscheinen für den Zug und das Boot verbarg, war weniger offensichtlich. War es wirklich Zufall, dass sie Frédéric nach Eragny und Vétheuil führen sollten? Zu diesen beiden Städten an den Ufern der Seine, in die Gegend, die die Künstler, die dort wohnten, gemalt hatten, ob nun Renoir, Monet, Pissarro, Sisley, Gauguin oder andere?
Der zweite Fahrschein berechtigte ihn zu einer Bootstour am 18. Dezember mit Abfahrt in Vétheuil, mit der Gesellschaft »Seine-Rundfahrten«. Als Frédéric die Abfahrtszeit suchte, entdeckte er auf der Rückseite des Fahrscheins eine handschriftliche Notiz mit roter Tinte:
Erinnere dich an die große Liebe,
die den Winter tief in ihrem Inneren verbarg.
Er drehte den Zugfahrschein und die beiden Eintrittskarten um und sah, dass auf allen etwas geschrieben stand. Auf die Rückseite der Eintrittskarte für den Garten von Claude Monet in Giverny für den 22. Dezember hatte jemand notiert:
Fange rechtzeitig den Zauber deines Teiches ein,
oder du herrschst bald über ein Meer welker Blüten.
Was bedeuteten diese Rätsel? Es ergab alles keinen Sinn. Auf der Eintrittskarte für das Pariser Musée d’Orsay für den 24. Dezember stand:
Die erhabene Ruhe der Dinge.
Frédéric nahm die Zugfahrkarte erneut zur Hand und fand auch dort einen Text auf der Rückseite:
Ein großer Aufbruch zu neuen Impressionen.
Folge dem Weg der Abgewiesenen.
Seine Miene hellte sich auf. Endlich konnte er die Botschaft entziffern. Die »neuen Impressionen«, zumal auf der Rückseite einer Zugfahrkarte, spielten auf Monets Bild La Gare Saint-Lazare an, das eindeutig impressionistisch war. Und die Abgewiesenen waren die Impressionisten selbst, die von der Jury des angesehenen Salons abgewiesen worden waren, der allein über die künstlerische Qualität in jener Epoche entschied. Monets Freunde hatten stattdessen im sogenannten inoffiziellen »Salon der Abgewiesenen« ausgestellt.
Anschließend nahm Frédéric die Schatzkarte unter die Lupe. Er entdeckte keinen tieferen Sinn, der ihm möglicherweise bei der ersten Betrachtung entgangen war. Die Zeichnungen schienen keinen Bezug zu den Impressionisten zu haben.
Er sah ein Spielzeug-Modellauto. Einen Totenkopf wie auf einer Piratenflagge. Margeriten in einem Blumentopf. Die Hand eines alten Mannes. Notenlinien. Das Profil einer Frau in einem herzförmigen Rahmen. Wolken. Eine Brücke auf dem Lande. Eine Folge von Spielkarten mit drei Königen und einem Joker. Ein paar Wörter: Wahrheit, Toleranz, Garten, Liebe. Andere Zeichnungen und Symbole, die Frédéric nicht zu deuten vermochte. Und jener rote Weg zwischen all den Bestandteilen der Karte, der zu dem Kreuz führte.
Frédéric legte alles wieder zurück in die Schachtel und schloss sie behutsam. Dann blies er auf seine von der Kälte geröteten Hände, um sie zu wärmen. Sein weißer Atem stieg in den grauen Himmel auf. Als er den Kopf hob, sah er eine Elster über den Park fliegen. Er steckte die Hände in die Manteltaschen. Auf dem Weg standen zwei junge Frauen, die gekleidet waren, als sei es gerade mal Herbst, und kicherten beim Anblick des gut aussehenden Mannes auf der Bank. Frédéric wandte den Blick ab. Zwei kleine Rotkehlchen hüpften durch den Schnee. Sie pickten im selben Rhythmus in den gefrorenen Boden und gruben ab und zu ein paar Erdkrumen aus. Ihre Füße hinterließen winzige Spuren. Und Frédérics Leben entfernte sich zusehends.
Unmerklich und geräuschlos war es aus den Fugen geraten. Frédéric hatte Karriere und Lebensweg so
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