Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Gewissen. Dieser Augenblickgehörte allein ihr und ihrer Schwester, und Pétronille hatte nichts anderes im Kopf als ihren verdammten Job. Glücklicherweise konnte sich Dorothée ebenfalls gut in ihre Schwester hineinfühlen.
Sie setzte sich neben sie in die Umkleidekabine und sagte leise: »Nini, du kaufst dir doch so gerne Schuhe. Was ist denn los?«
Pétronille holte tief Luft. Eingezwängt in das blaue Kleid, aus dem das Etikett oben am Rücken herausguckte, sprudelte auf einmal alles aus ihr heraus, und sie lud ihren ganzen Frust bei Dorothée ab. Dass sie durch die Seminare an der Uni und den Halbtagsjob bei Frédéric die ganze Woche und am Wochenende wie eine Verrückte arbeitete. Dass sie ständig irgendwelchen Mist machen musste, den eine Praktikantin von 16 Jahren ebenso gut erledigen konnte, wie zum Beispiel fotokopieren, die Verwaltung seiner Kunstsammlung, die Aktualisierung seiner Webseite, Spesenabrechnungen, die Organisation seiner Reisen, die Zusammenstellung der Unterlagen für den Steuerberater, seine Anzüge in die Reinigung bringen, ein neues Ladegerät für sein iPhone kaufen (»Drei Stunden hin und zurück zum Apple Store, kannst du dir das vorstellen?«). Dass Frédéric ihr so blöde Aufgaben aufhalste, wie diesen unausstehlichen Mandanten Witherspoon anzurufen, um Termine zu bestätigen, obwohl dafür eigentlich seine Sekretärin bei Dentressengle-Espiard-Smith zuständig war (»Dabei verdient sie vermutlich dreimal so viel wie ich!«). Sie rackerte sich dermaßen ab, dass sie kaum noch richtig schlafen konnte und oft keinen Appetit hatte. (»Man sieht das zwar nicht sofort, aber ich lasse oft Mahlzeiten ausfallen.«) Frédéric bemerkte immer nur, wenn mal etwas nicht klappte. Obendrein errötete sie jedes Mal, sobald sie vor ihm stand, und das war wahnsinnig peinlich und überhaupt nicht beeindruckend. Sie erzählte Dorothée von seiner Weigerung, ihr ein paar Tage Urlaub für die Überraschungsparty zum 40. Hochzeitstag ihrer Eltern zu geben. Und auch von ihrer Idee, zu der Gelegenheit eine Hochzeitstorte aus 80 kleinen Windbeuteln und Krokant zu backen, doch dazu würde sie niemals Zeit finden. Und jetzt die Nachforschungen über diesen Fabrice Nile: Die hatten ihr gerade noch gefehlt.
Ein Mann – noch dazu ein Toter –, der wie aus heiterem Himmel aufgetaucht war und über den ihr Chef alles wissen wollte. Zudem schien es sehr wichtig zu sein. Pétronille wusste nicht einmal, warum sie Informationen über ihn einholen sollte, denn er tauchte in keiner von Frédérics Akten auf. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte. Nichts bei Google, nichts in den Zeitungen, und in den Telefonbüchern fand sie ihn auch nicht. Die Recherchen bei Facebook brachten ebenfalls keine Ergebnisse. Man hätte fast meinen können, dieser Mann hätte niemals existiert. Außerdem hatte sie offiziell keinerlei Befugnis, vertrauliche Informationen einzuholen, da es sich nicht um einen laufenden Fall handelte. Morgen früh musste sie den Bericht abliefern. Aber bis jetzt hatte sie noch gar nichts herausgefunden.
Dorothée, die sich geduldig alles anhörte, ohne ihre Schwester zu unterbrechen, sagte schließlich: »Hör zu. Ich schlage dir einen Deal vor. Du vergisst das alles, sagen wir mal für ...« Sie schaute auf die Uhr. »... 44 Minuten. In diesen 44 Minuten schaltest du dein Handy aus, denkst ausnahmsweise einmal nicht an deinen Job und suchst dir hier in diesem Geschäft die tollsten Schuhe aus, die du finden kannst. Ich meinerseits helfe dir dafür bei deinem Bericht über diesen Fabrice. Wir schreiben ihn gemeinsam. Also, möchtest du meine Gefiehlin sein?«
»Okay«, murmelte Pétronille verhalten lächelnd. Sie legte den Kopf auf die Schulter ihrer Schwester. »Du bist die beste Schwester, die man sich nur wünschen kann.«
Dorothée nahm Pétronilles Handy und schaltete es aus. »Jetzt zeig mir mal, wie das Kleid sitzt«, forderte sie ihre Schwester auf.
Pétronille zog es noch einmal richtig an und warf sich in Pose. Dorothée musterte sie mit ernster Miene und sagte dann mit einem strahlenden Lächeln: »Beeindruckend!«
44 Minuten später verließ Pétronille mit fantastischen Pumps in einer Einkaufstüte und mit wertvollen Ratschlägen von Dorothée die Boutique. Was den Bericht betraf, der am nächsten Tag vorliegen musste, sollte sie nur sagen, dass sie eine vielversprechende Spur verfolge, es aber noch verfrüht sei, darüber zu sprechen. Und gleich morgen würde sie in Pontoise in dem
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