Und wenn es die Chance deines Lebens ist
offensichtlich viel reicher waren als er, Gemälde von Monet oder Van Gogh für 15 oder 20 Millionen Dollar ersteigerten, biss er die Zähne zusammen. Eines Tages würde er derjenige sein. Eines Tages würde er noch einmal das unbeschreibliche Glücksgefühl erleben, das er gespürt hatte, als der Auktionator bei Sotheby’s Snow at Marly von Alfred Sisley für 530.000 Dollar Mister Frédéric Solis zugeschlagen hatte. Eines Tages würde auch er in London oder New York bei der Versteigerung eines Monets die Hand heben können. Er musste nur weiterhin härter arbeiten als die anderen und seine Beziehungen pflegen.
In diesem Augenblick wurde Frédéric bewusst, dass er in derselben Woche gleich zweimal seinem Vorsatz untreu geworden war, niemals einen Termin mit einem Mandanten abzusagen. Natürlich plagte ihn deshalb ein schlechtes Gewissen. Darum hatte er auch Pétronille und nicht Catherine, seine offizielle Sekretärin bei Dentressengle-Espiard-Smith, gebeten, den Termin mit Witherspoon abzusagen. Dadurch wurde sein guter Ruf gewahrt. Frédéric Solis sagt niemals Termine ab. Niemals!
Und warum plötzlich dieser Verstoß gegen seine Grundsätze? Es war nicht nur die Müdigkeit, sondern die absurde, irrationale und gefährliche Überzeugung, die ihn unaufhörlich quälte: der Gedanke, dass Fabrice Nile ihn zu dem Gemälde eines Impressionisten führen würde.
Frédéric wollte nicht mehr daran denken und tat es dennoch. Es passierte immer wieder, dass auf einem Speicher Meisterwerke gefunden wurden, besonders Werke der Maler des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Oft standen sie bei Leuten herum, die so sehr daran gewöhnt waren, sie zu besitzen, dass sie ihren Wert nicht mehr erkannten. Pissarros Haus zum Beispiel war während des Deutsch-Französischen Krieges verwüstet worden, und dabei verschwanden Dutzende von Gemälden. Würde man sie eines Tages wiederfinden? Monets hingegen wurden selten gefunden, schon allein weil sie so berühmt geworden waren.
Doch Frédéric quälte noch ein weiterer Gedanke. Wenn er an Fabrice Nile dachte, tauchte im Hintergrund ein anderer Name auf. Es war der einzige Name, der einen Schatten auf sein Leben warf. Der einzige Name, hinter dessen Buchstaben sich Geheimnisse und Schweigen verbargen. Der einzige Name, der ihn nachts aus dem Schlaf riss. Frédéric drückte die Zigarette in dem Aschenbecher von Hermès aus, nahm sein iPhone und schrieb Pétronille eine E-Mail.
»Betrifft den Vorgang Fabrice Nile. Bitte mögliche Verbindung zu ERNEST VILLIERS prüfen.«
Kaum hatte er die E-Mail verschickt, da klingelte sein Handy. Es war Dany. Frédéric ließ es klingeln. Er nahmdie Schatzkarte in die Hand und setzte sich wieder in den Sessel. Während er auf die winzigen Kritzeleien von Fabrice Nile starrte, ließ er die Gedanken schweifen. Diese Zeichnungen hatten eine eigene Art, mit ihm zu sprechen, die jenseits ihrer geheimnisvollen Bedeutungen lag. Dem ein wenig nachlässig gezogenen Strich haftete eine gewisse Eleganz an, eine raue Schönheit, die die schlechte Qualität des Papiers vergessen ließ. Frédéric starrte schon eine ganze Weile auf das große Blatt auf seinen Knien, als sich sein Blick trübte. Die drei schlaflosen Nächte holten ihn ein.
Plötzlich war er wieder hellwach und riss die Augen auf. In einer Ecke des Bildes entdeckte er neben der Hand des alten Mannes einen schwarzen Punkt wie auf einer Partitur. Er nahm das Blatt in die Hand und betrachtete diesen Punkt aufmerksam. Das war keine Note, sondern eine auf einem Gatter sitzende Elster in einer verschneiten Landschaft. Für Frédéric bestand nicht der geringste Zweifel. Dieses Detail stammte aus einem der bekanntesten Gemälde von Claude Monet: Die Elster .
Es war schon die vierte Nacht in Folge, in der Frédéric nicht schlafen konnte. Auf seinem Digitalwecker wurde aus 23:59 Uhr 00:00 Uhr, und der 14. Dezember wich dem 15. Dezember. Ein weiteres Fenster des Adventskalenders, das sich öffnet, dachte er.
Und auf einmal hatte er den 5. Dezember 1979 vor Augen, und er sah ein kleines Haus in einem Dorf in der Normandie. Es war Sonntag, denn es wurde L’École des Fans im Fernsehen gezeigt, und Frédéric durfte sich die Sendung ansehen. Er saß vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher, während seine Mutter bügelte. Pino Latuca begleitete am Klavier das Zischen des Bügeleisens.
Die Eingangstür knarrte.
»Ich bin’s! Ich habe einen großen Baum gefunden!« Frédéric rutschte von der Bank und lief zu
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