Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Alkoholeinfluss noch selbstloser, als sie es ohnehin schon war. Seit sie ein kleines Mädchen war, wollte sie Großes vollbringen. Sie träumte davon, Mutter Teresa zu sein; viel Geld zu verdienen, um es anderen zu schenken; Architektin zu werden, um Häuser für Obdachlose zu bauen; die Menschen zu motivieren, Gutes zu tun, und die Herzen der Reichen fürdas Leid der Armen zu öffnen. Während der gemeinsamen Mahlzeiten unterhielt sie schon als Kind ihre Eltern, Brüder und Schwestern regelmäßig mit der Schilderung ihrer großen Projekte, mit denen sie die Welt verändern wollte. Sie schrieb Leserbriefe an das Micky-Maus-Magazin , und wenn sie sich Dokumentarfilme ansah, weinte sie. Mit ihren 25 Jahren hatte sie jedoch nicht mehr erreicht, als sich solide Kenntnisse im Familienrecht anzueignen und eine Expertin im Backen von gefüllten Windbeuteln zu sein.
»Ich bin 25 Jahre alt und habe mein Leben total verpfuscht«, nuschelte sie mit der Nase in ihrem Glas.
»Dein Leben hat doch gerade erst begonnen, mein Schatz«, tröstete Dorothée sie. »Wie kannst du es denn da verpfuscht haben?«
»Nein, nein, du verstehst das nicht. Ich war meinem Alter schon immer weit voraus. Eine Art Wunderkind, aber im Scheitern. In meiner Biografie bei Wikipedia wird zu lesen sein: ›Schon in sehr jungen Jahren hat sie ihr Leben verpfuscht‹.«
»Wenn deine Biografie bei Wikipedia steht, heißt das, dass du irgendetwas Besonderes geleistet hast.«
»Ja, Windbeutel backen. Ich werde den Rekord der größten Hochzeitstorte der Welt brechen. Ein Eiffelturm aus Windbeuteln! Das wär’s doch! Es gibt Leute, die ihn aus Streichhölzern oder Wäscheklammern gebaut haben. Warum sollte ich da nicht einen aus Windbeuteln bauen?«
Sie begann zu kichern. »Die Kathedrale von Chartres aus Windbeuteln.«
Dorothée lachte ebenfalls, was ihre Schwester ermutigte fortzufahren.
»Das kleine Trianonschlösschen und seine Gärten aus Windbeuteln.«
Dorothée wollte nicht zurückstehen und ließ sich auch schnell etwas einfallen. »Der Mont Saint-Michel bei Ebbe aus Windbeuteln.«
»Napoleon zu Pferde aus Windbeuteln!«, rief Pétronille übermütig.
Die beiden Schwestern prusteten vor Lachen und waren nicht mehr zu bremsen. Es war wieder wie bei den gemeinsamen Mahlzeiten in ihrer Kindheit, wenn plötzlich einer einen witzigen Einfall hatte, worauf jeder, Groß und Klein, seine eigenen Ideen zum Besten gab. In diesen Augenblicken merkten alle, dass ihr sonst eher strenger Papa auch ein ungeheures Talent als Komiker besaß. Er brachte ihre Mutter dann dermaßen zum Lachen, dass man die beiden für Jungverliebte hätte halten können. Alle alberten herum, und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Jules mit seinem trockenen Humor und Ulysse, der Clown der Familie, der immer Grimassen schnitt; Dorothée, die sich über die Späße ihrer Brüder so kaputtlachte, dass sie kaum noch ein Wort herausbekam. Und Pétronille, die Jüngste, sprang auf, tanzte um ihren Stuhl herum und belustigte die anderen am Tisch mit ihren komischen Kinderstreichen. Sie strahlte dann übers ganze Gesicht und freute sich, dass ihre geliebten Eltern und älteren Geschwister sich so köstlich über sie amüsierten.
Pétronille und Dorothée schwelgten in der In-Cocktailbar in glücklichen Erinnerungen an vergangene Zeiten, als ihre kleine Familie noch unter einem Dach wohnte.Die anderen Gäste musterten die beiden übermütigen Kicherliesen bereits mit pikierten Blicken.
» Die Freiheit führt das Volk aus Windbeuteln.«
Dorothée, die sich vor lauter Lachen den Bauch hielt, flehte Pétronille an aufzuhören, sonst müsste sie ihr wegen vorzeitiger Wehen bald einen Krankenwagen rufen.
» Das Floß der Medusa aus Windbeuteln«, sagte Pétronille und brach prustend am Tisch zusammen. »Ich kann nicht mehr ...«
Dorothée rang nach Atem. Der Zauber war vorbei. Es war besser, wenn sie jetzt gingen, bevor die Stimmung kippte und Pétronille noch melancholisch wurde.
»Komm, Nini, wir gehen nach Hause. Nini?«
Pétronille, die auf ihr Glas schielte, hob langsam den Blick in Dorothées Richtung. Es wirkte fast so, als würde sie ihre Schwester nicht ansehen, sondern durch sie hindurchschauen.
»Ich hatte gerade eine Erleuchtung«, verkündete Pétronille, die noch immer ins Leere starrte.
»Okay, dann nimm jetzt deine Tasche und deine Erleuchtung. Ich bezahle inzwischen. Wir treffen uns am Eingang«, sagte Dorothée.
»Nein, nein, im Ernst, Do. Es ist tatsächlich
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