Und wenn es die Chance deines Lebens ist
freute sich, als sie ihnen eine Flasche Bordeaux brachte. »Für mich nicht«, sagte Jamel, was alle überraschte.
»Ich habe auch Weißwein, wenn Ihnen das lieber ist«, bot die Wirtin an.
»Vielen Dank. Ich trinke keinen Alkohol. Zur Feier des Tages will ich aber mal fünf gerade sein lassen. Ich nehme ein Glas Mineralwasser mit einer Scheibe Zitrone , wenn Sie eine haben.«
»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich ...«, sagte Frédéric und hielt der Hausherrin sein Glas hin.
»Überhaupt nicht.«
Schweigend trank Frédéric einen Schluck Wein und fragte sich, ob Jamel aus religiösen Gründen keinen Alkohol trank.
»Es ist nicht das, was du denkst«, sagte Jamel, als die Wirtin hinausgegangen war. »Mit dem Glauben hat das nichts zu tun. Ich habe vor meinem 18. Geburtstag so viel Alkohol getrunken, dass es für den Rest meines Lebens reicht.«
Jamel musterte Frédéric, der sein Glas auf dem Tisch abgestellt hatte, und fuhr mit gelassener Miene fort, als würde er eine ganz alltägliche Geschichte erzählen.
»Als ich 16 Jahre alt war, starben meine Eltern bei einem Hubschrauberabsturz. Damals fand ich, es sei einegute Idee, zu koksen und mich mit Wodka volllaufen zu lassen, statt zu trauern. Jeder geht anders mit so etwas um, wirst du vielleicht sagen.«
Frédéric hörte reglos zu. Er spürte, dass Jamel ihm noch mehr anvertrauen würde.
»Weißt du, manchmal sagt man, jemand sei so tief gesunken, dass es tiefer nicht mehr geht. Ich glaube, das konnte man von mir auch behaupten. Und dabei hatte ich gar nicht das Gefühl, als würde ich ins Bodenlose fallen. Ich saß ruhig in meiner Ecke, während sich mir alles andere entfremdete. Das Leben, die Freude, die Zukunft – alles spielte sich ohne mich ab. So etwas lässt sich nie mehr nachholen. Und eines Tages reichte mir jemand die Hand. Ich kam mit einem zertrümmerten Bein davon, und heute könnte ich jugendlichen Kiffern jede Menge Geschichten erzählen.«
Frédéric trank noch einen Schluck Wein. Er schaute durch das Fenster auf das Schneetreiben in der Dunkelheit. Auf der Fensterbank draußen lag schon eine dicke Schicht Schnee. Kein einziges Auto war zu sehen. Im Kamin knisterte das Feuer.
»Meine Mutter ist gestorben, als ich 21 Jahre alt war. Und mein Vater ... nun, das ist noch einmal eine ganz andere Geschichte. Ich bin noch zu nüchtern, um darüber zu sprechen.«
»Es ist seltsam«, sagte Jamel ohne aufzublicken und schwenkte sein Glas mit dem Mineralwasser. »Jeder erwartet, dass ein Typ wie ich Schlimmes erlebt hat, eine Katastrophe nach der anderen. Glaub mir, wenn ich von meinem Leben berichte, enttäusche ich niemanden. Ich kannschließlich immer etwas zum Thema ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ beisteuern. Die Einwanderer müssen doch zwangsläufig unglücklich sein, sonst hätten sie schließlich niemals ihr Heimatland verlassen, nicht wahr? Bei so erfolgreichen Leuten wie dir hingegen, einem waschechten Franzosen, einem Kämpfer an der Spitze der Nahrungskette, ist es kaum vorstellbar, dass sie auch nur einen einzigen Tag in ihrem Leben unglücklich gewesen sein sollen.«
Frédéric lachte. Wollte Jamel ihm seine Geheimnisse entlocken? Er starrte auf das fast leere Glas. Sein Verstand riet ihm, nicht über die Vergangenheit zu sprechen und die Leute in dem Glauben zu lassen, er sei privilegiert. Der einzige Mensch, dem er davon erzählt hatte, war Marcia. Frédéric war nicht bereit, eine weitere Person auf die Liste der Eingeweihten zu setzen, nicht einmal den sympathischen Jamel.
Jamel lachte ebenfalls. »Das ist das Problem mit den glücklichen Menschen. Sie sind nicht besonders gesprächig. Hör mal, ich habe gesehen, dass die Wirtin Gesellschaftsspiele hat. Lust auf eine Partie Monopoly?«
»Mein Vater hat sein Leben im Knast verbracht«, sagte Frédéric und kippte den restlichen Wein hinunter.
Jamel wurde mit einem Schlag leichenblass. Mit dieser Reaktion hatte Frédéric nicht gerechnet.
»Jetzt mach nicht so ein Gesicht.« Frédéric lachte laut. »Wie du siehst, habe ich keinen Schaden davongetragen.«
»Und was hat er verbrochen, dass er in den Knast musste?«, fragte Jamel mit ernster Miene.
Frédéric lachte wieder und goss sich Wein nach. »Ichweiß es nicht. Ich weiß nichts darüber. Kannst du dir das vorstellen?« Er trank noch einen Schluck Wein. »Meine Mutter hat ihn sofort verlassen, und eine Woche, nachdem er weg war, sind wir umgezogen. Ich war sieben Jahre alt. Sie hat nie mehr über ihn
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