Und wenn es die Chance deines Lebens ist
so bleibt, wie es ist, und nicht mehr daran gerührt wird. Mich beunruhigt nicht so sehr das, was er getan hat. Mehr als 30 Jahre lang war es mir lieber, mir die schlimmsten Dinge auszumalen, als die Wahrheit zu kennen. Je älter ich werde, desto mehr Angst habe ich zu entdecken, dass mein Vater im Grunde ein guter Mensch ist und sein Verbrechen letztendlich gar nicht so schlimm war. Wie du schon gesagt hast: Es gibt Versäumnisse, die man nicht nachholen kann ...«
Frédéric atmete tief ein.
»Er hat Kalender entworfen. Die Menschen liebten seine Kalender mit Kätzchen und Welpen, die mit Wollknäueln spielten. Er selbst mochte jedoch am liebsten die Kalender mit Gemälden großer Meister. Weißt du, von ihm habe ich meine Liebe zur Kunst geerbt ...«
Frédéric verstummte abrupt. Er erschrak, weil er diesen offensichtlichen Zusammenhang niemals zuvor hergestellt, geschweige denn darüber gesprochen hatte. War es tatsächlich so? Hatte er seine große Begeisterung für die Kunst wirklich von seinem Vater geerbt? Als er fortfuhr, war es ihm, als würden in seinem Unterbewusstsein nunsämtliche lange verborgenen Vorwürfe auf einmal wachgerufen.
»Das ewige Grübeln kann einen aber auch wahnsinnig machen, denn wenn sein Vergehen harmlos war, warum hat er mich dann nicht gesucht? Es muss schon etwas Schwerwiegendes gewesen sein, und darum ist es besser, wenn ich es nicht weiß. Aber ich gehe dir mit meinen Geschichten auf die Nerven. Komm, wir spielen eine Partie Monopoly. Allerdings solltest du wissen, dass ich immer gewinne.«
Also begannen sie zu spielen. Es wurde ein fröhlicher Abend. Sie sprachen über Fußball, Frauen, Filme, Träume und Erinnerungen. Keiner von beiden erwähnte Fabrice Nile. Frédéric konnte es kaum fassen, dass er zum ersten Mal beim Monopoly verlor, entpuppte sich jedoch als guter Verlierer. Man hätte die beiden so unterschiedlichen Männer in den lächerlichen Hosen für alte Freunde oder Brüder halten können, die sich nach langer Zeit wiedergetroffen hatten. Frédéric war so ruhig und ausgeglichen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Kurz vor Mitternacht gingen sie zu Bett. Als Frédéric unter die kalte Decke kroch, musste er an das denken, was Jamel gesagt hatte: »Sobald man jemanden ein bisschen kennt, stellt man fest, dass er ganz anders ist, als man vermutet hat. Nehmen wir zum Beispiel dich. Du ähnelst Ken, du weißt schon, Barbie und Ken. Und doch ...« Frédéric lächelte darüber und sank innerhalb weniger Minuten in einen tiefen Schlaf. Zum ersten Malseit dem Gespräch mit dem Notar schlief er wie ein Murmeltier.
Zur selben Zeit nahm John Witherspoon in eleganter Abendgarderobe an einem Empfang in einem noblen Restaurant teil, in dem die oberen Zehntausend von Paris verkehrten. Er trank in Gesellschaft des alten Dentressengle von Dentressengle-Espiard-Smith Dom Pérignon und ließ ihn wissen, dass Solis vollkommen unfähig sei. Gleich am nächsten Tag werde er, Witherspoon, sich von diesem Versager befreien, und er gab Dentressengle sein Wort: Solis will never work in this town again . Und sollte die Kanzlei Dentressengle-Espiard-Smith Frédéric nicht feuern, würde er in Zukunft seine gesamten Geschäfte von der Kanzlei gegenüber abwickeln lassen. Während der erfolgreiche Anwalt dem Kellner bedeutete, dem werten Monsieur Witherspoon in dem schwarzen Smoking noch ein Glas Champagner zu bringen, rieb sich der Milliardär den Allerwertesten, der von seinem Sturz am Vormittag im Schnee noch immer schmerzte. Dabei beobachtete er heimlich seine neue Freundin, die mit einem attraktiven Börsenmakler flirtete, der vermutlich keine blauen Flecken am Hintern hatte.
»Ja, genau, Windbeutel! Windbeutel! Das ist es, was die Welt braucht, Dorothée, Windbeutel! Und keine Anwälte!«
Und schwupp, nahm sie noch einen Schluck von ihrem Cocktail. Pétronille hatte bereits drei Cocktails getrunken und war ziemlich beschwipst. Sie schwenkte ihr MartiniGlas im Rhythmus ihrer ausgelassenen kleinen Rede. Dorothée wusste, dass sie jetzt am besten gehen sollten. Sie könnte ihre Schwester mit zu sich nach Hause nehmen und ihr im Wohnzimmer die Schlafcouch ausklappen, damit sie ihren Rausch ausschlafen konnte. Da sie sich aber so köstlich über die übermütigen Äußerungen ihrer Schwester amüsierte und das Wetter so scheußlich war, schob sie den Moment des Aufbruchs immer wieder hinaus.
Die einen werden lustig, die anderen traurig, wenn sie Alkohol trinken. Pétronille wurde unter
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