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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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gesprochen. Nein, das stimmt nicht ganz. Sie hat zu mir gesagt, es wäre besser, die Vergangenheit in guter Erinnerung zu behalten, als sich dabei aufzureiben, etwas ändern zu wollen, was nun einmal nicht zu ändern ist. Die Erinnerungen könnten uns nicht enttäuschen, hat sie zehn Tage vor ihrem Tod gesagt. Ich weiß allerdings nicht, ob sie damit sich oder meinen Vater meinte.« Frédéric verstummte kurz. »Ich glaube, das Feuer ist ausgegangen. Wenn ich mich nicht irre, liegt unter der Treppe Holz. Ich versuche mal, das Feuer neu anzufachen.«
    Er stand auf. Jamel blieb sitzen und starrte in die Glut. Frédéric kehrte zurück und warf Holz ins Feuer. Der Rauch zog durchs Zimmer und brannte in ihren Augen.
    »Hat dein Vater denn niemals versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen?«, fragte Jamel. Fréderic, der ihm den Rücken zukehrte, verharrte einen Augenblick reglos. Keiner von beiden sagte ein Wort. Nur das Knistern des Feuers war zu hören.
    »Nein«, erwiderte Frédéric schließlich, ohne sich umzudrehen.
    Doch wie er so ins Feuer schaute und sein Gesicht zu glühen begann, erinnerte er sich an einen herrlichen Frühlingstag vor 17 Jahren.

Gespräche über die aktuelle Lage in Amerika, ein grüner Rasen, der Campus der Harvard-Universität, ein sonnengebräunter junger Frédéric voller Selbstvertrauen. Für den 22-jährigen Studenten war es ein großer Erfolg, trotz seiner einfachen Herkunft an der renommierten Universität zu studieren. An diesem Tag hatte er sich in den Park gesetzt, um seine Post zu lesen und Briefe zu beantworten. Vor Kurzem war er in ein anderes Zimmer gezogen, und sein ehemaliger Mitbewohner hatte die Post für ihn in einem großen braunen Briefumschlag gesammelt. Jetzt saß Frédéric im Schatten einer Trauerweide und öffnete den Umschlag. Plötzlich verstummten alle Geräusche ringsumher. In dem Umschlag steckte ein Brief von Ernest Villiers.
    Niemals zuvor hatte Frédéric irgendetwas von seinem Vater bekommen. Wenige Tage vor jenem traurigen Weihnachtsfest hatte er ihn zum letzten Mal gesehen. Für welches Verbrechen musste er sein Leben im Gefängnis verbringen? Frédéric wusste es noch immer nicht, und er wuchs mit der Gewissheit auf, es sei besser so. Und nun bekam er diesen Brief. Auf der Rückseite des Umschlags stand unter dem Namen seines Vaters eine Adresse in Paris.
    Frédéric hielt den Brief in der Hand. Wenn er ihn öffnete, würde er in wenigen Minuten alles wissen. Sämtliche Szenarien, die er sich nächtelang vor Augen geführt hatte,würden sich als Irrtum herausstellen und durch eine Realität ersetzt werden, an der es nichts mehr zu rütteln gab. Tausende der verrücktesten Fragen, die er nur sich selbst gestellt hatte, würden sich durch simple Antworten in nichts auflösen. Und der sanftmütige, aufmerksame und heitere Mann, der Held seiner Kindheitserinnerungen, würde sterben, um durch einen realen Vater ersetzt zu werden, der den ganzen Ballast eines komplizierten Lebens, das er hier auf ein paar Seiten zusammengefasst hatte, hinter sich herzog.
    Warum schrieb dieser Vater ihm nach so vielen Jahren des Schweigens? Vor wenigen Monaten war Frédérics Mutter beerdigt worden. War er hinter dem Erbe her? Brauchte er Geld? Frédéric wurde sich bewusst, dass dieser Mann sich von seinem Vater unterschied, dem er Weihnachten immer beim Schmücken des Christbaums helfen durfte. Seine Mutter hatte recht damit gehabt, dass die Erinnerungen uns nicht mehr enttäuschen können. Ob sie wohl damals schon ahnte, dass sein Vater ihm diesen Brief schreiben würde? Hatte Frédéric ihr nicht das stillschweigende Versprechen gegeben, niemals zuzulassen, dass sein Vater ihn enttäuschte? Es war besser, wenn die Menschen, die nur in der Erinnerung existierten, ihren dortigen Platz behielten. Sein richtiger Vater war an jenem Weihnachtsmorgen gestorben. Er sollte kein zweites Mal sterben.
    Aus all diesen Gründen öffnete er den Brief nicht. Er gab ihn mit dem Vermerk » ZURÜCK AN ABSENDER « in der Poststelle der Universität ab. Frédéric war 22 Jahre alt und beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung. Nachdem er den Brief zurückgegeben hatte, begannen ihnAlbträume zu quälen, und er fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

»Möchtest du es jetzt immer noch nicht wissen?«, wagte Jamel zu fragen.
    Frédéric nahm wieder in dem Sessel Platz und atmete tief durch. Er suchte nach den richtigen Worten.
    »Sagen wir so ... Ich ziehe es vor, dass alles

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