Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Wunder geschah. Er stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Angst gewann die Oberhand. Die Kanzlei Dentressengle-Espiard-Smith hatte ihn gefeuert.
Der Wind hatte sich gedreht. Bislang war trotz seiner hohen Schulden eigentlich alles ganz gut gelaufen. Sicher, er hatte immer über seine Verhältnisse gelebt, aber bisher stets Glück gehabt und viel Geld verdient. Damit war jetzt Schluss, und überdies war sein guter Ruf ruiniert. Frédéric vermutete, dass Johns krankhafte Eifersucht dahintersteckte. Hatte seine neue Freundin ihm nicht im Restaurant im Jardin de Bagatelle schöne Augen gemacht? Der Grund spielte jedoch keine große Rolle. Die edlen Visitenkarten mit Prägedruck von Dentressengle-Espiard-Smith waren nun nutzlos. Die Kreise, aus denen seine zahlungskräftigen Mandanten in den letzten sieben Jahren stammten, waren Johns Welt der Finanzen und Danys Showbusiness-Leute. Der Zutritt zu diesen beiden Kreisen war ihm fortan verwehrt. Wie war es möglich, dass man sich noch vor wenigen Wochen förmlich um seine Dienste riss und er heute wie der Sohn eines einfachen Kalenderverkäufers behandelt und kurzerhand hinausgeworfen wurde?
Frédéric Solis musste den Tatsachen ins Auge sehen. Sein letztes Gehalt reichte gerade mal aus, um die dringendsten Schulden zu begleichen. Darüber hinaus musste er noch vor Weihnachten 30.000 Euro auftreiben, um seinen Sisley aus den Klauen des Gerichtsvollziehers zu retten. Und wie würde er danach leben? Frédérics vorsichtiger Optimismus des gestrigen Tages war einer ungeheuren Panik gewichen. Das Blut pochte in seinen Schläfen, während er sich die schlimmsten Szenarien vor Augen führte. Er war Frédéric Solis, ein hervorragender Rechtsanwalt und Kunstsammler. Wenn ihm diese Attribute genommen wurden, was blieb dann noch von ihm? Wer war er dann?
Er dachte an das, was Jamel gestern gesagt hatte: Man fällt nicht ins Bodenlose. Man bleibt dort, wo man ist, aber das Leben stiehlt sich davon. Ja, alles andere entfernte sich. Und Frédéric begriff noch etwas. Sein guter Stern hatte ihn an dem Tag verlassen, als Fabrice Nile in sein Leben getreten war.
Was wollte dieser Mann von ihm, der ihn noch nach seinem Tod quälte? Frédéric glaubte nicht an Geistergeschichten, und dennoch ... Gehörte dieses ganze Unglück, das er nun erlebte, zu dem Plan? Entsprang dieser entsetzliche Schneesturm, der die ganze Region rund um Paris lahmgelegt hatte, ebenfalls dem Geist jenes vom Leben enttäuschten, melancholischen Clochards? War er ein Unheil bringender Engel? Oder gar der Teufel persönlich?
Mit den 80 Windbeuteln, die Pétronille von zu Hause geholt und in vier große Frischhaltedosen gepackt hatte, kam sie in der Eingangshalle des Krankenhauses an. Kopfschmerzen und Übelkeit quälten sie, und sie hatte eine pelzige Zunge. Mit einem Satz: Sie hatte einen furchtbaren Kater. Ihre schlechte körperliche Verfassung war aber nicht der Grund, warum sie wie angewurzelt in der Eingangshalle stehen blieb. Mittlerweile war Pétronille zu der Überzeugung gelangt, dass sie heute Morgen, als sie den Zug nach Pontoise genommen hatte, noch leicht unter Alkoholeinfluss gestanden haben musste. Jetzt war sie nüchtern, vollkommen nüchtern, und der Rausch am gestrigen Abend war die einzige Erklärung für diese absurde Idee.
Pétronille setzte sich auf einen der Stühle neben einem Springbrunnen und suchte in ihrer Tasche nach einer Paracetamol. Nachdem sie die Tablette geschluckt hatte, kam ihr in den Sinn, dass sie ihre Übelkeit vielleicht mit etwas zu essen bekämpfen sollte. Aber gab es hier überhaupt etwas zu essen? Ihr fiel die Kantine im dritten Stock ein, und sie überdachte ihr Vorhaben noch einmal. Es war lächerlich. Man würde sie für verrückt erklären und hinauswerfen. Pétronille dachte auch an Frédérics Vater –mein Gott, der arme Mann war tatsächlich der Vater ihres Exchefs! Er hatte das Pflegepersonal bestimmt aufgefordert, die Sicherheitsmaßnahmen zu erhöhen, nachdem eine Fremde in sein Zimmer eingedrungen war und versucht hatte, ihn mit Pistaziencreme-Windbeuteln zu vergiften. Es war das Beste, wenn sie nach Hause zurückfuhr und sich ins Bett legte. Sobald sie wieder fit war, würde sie sich um einen neuen Job bewerben und diese verrückte Geschichte vergessen. Diese Idee mit den Windbeuteln. Stattdessen öffnete sie eine der Frischhaltedosen und aß einen Windbeutel mit Mokkacreme. Ja, es tat wirklich gut, etwas zu essen. Sie fühlte sich gleich
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