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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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wenig zu verweilen. Ah, auch dieses Gemäldekennen wir. Wir haben es oft gesehen. Es ist ein kleines Bild, und es sieht so aus, als wollte es uns etwas zuflüstern. Wir verlangsamen unsere Schritte. Wir stellen uns vor das Bild und neigen ab und zu den Kopf zur Seite. Und mit einem Mal erfüllt uns innere Ruhe.
    Einen kurzen Moment vergessen wir die Abfahrt des Touristenboots, die schmerzenden Füße und sogar die riesige Uhr, die über unseren Köpfen tickt. Aber alles geht vorüber, selbst diese herrlichen Augenblicke. Wir müssen aufbrechen, wenn wir den Rest von Paris noch sehen wollen. Und wenn wir wieder nach Hause zurückgekehrt sind, können wir sagen, dass das schönste Bild im Musée d’Orsay jenes kleine, blasse Gemälde mit den sanften Farben war. Die Elster von Claude Monet.
    Die Elster von Monet sieht die Menschen vorübergehen. Sie bleiben stehen und gehen weiter. So ist es immer. Sie weiß wohl, dass alles vergeht.
    An diesem Nachmittag war ein Mann da, der sie betrachtete und nicht weiterging. Auch er erinnerte sich an das Bild. Ja, er erinnerte sich sehr gut daran. Er ballte die Fäuste, und sein Herz klopfte zum Zerspringen. Dieser Mann war Frédéric Solis. Es war genau 14:00 Uhr, als er in dem Saal 29 auf der Ebene 5 ankam. Unter der Elster stand die Nummer: RF 1984 64.

Ein paar Schritte hinter dem Besucher, der das Gemälde so eingehend betrachtete, stand jemand, der im Schatten von Frédéric einen kleinen Jungen im Flanellpyjama erblickte. Jemand, den Freunde ins Museum begleitet hatten, weil es der einzige Ort auf der Welt war, an dem er jetzt sein wollte, ehe er seine Reise ohne Wiederkehr antrat. Er vergaß die starken Schmerzen seiner Krebserkrankung und ging auf den Mann zu, in dem er das Kind erkannte. Sein Kind.

Im Krankenhaus in Pontoise tasteten die Hebammen den Bauch der schönen jungen Frau ab, die in dem Zimmer des verschwundenen Patienten ihr Fruchtwasser verloren hatte. Marcia hörte das Tuscheln hinter der Tür. Die meisten Begriffe verstand sie nicht, doch es war auch die Rede von einem Unfall auf der Pariser Ringautobahn und von starkem Schneefall. Schließlich kam ein Arzt ins Zimmer, lächelte sie an und erklärte ihr, dass sie nicht nach Paris zurückkehren könne. Bei dem unberechenbaren Wetter und dem Verkehrschaos im Großraum Paris sei das zu gefährlich für sie. Die Ärzte in diesem Krankenhaus würden sich hervorragend um sie kümmern. Wollte sie den Vater verständigen, dass sie hier entbinden würde? Marcia geriet in Panik und erhob Einwände. Für sie stand fest, dass sie nur von ihrem Arzt, der sie von Beginn der Schwangerschaft an betreut hatte, entbunden werden wollte und von niemandem sonst. Konnte sie nicht mit einem Krankenwagen in die Pariser Klinik gebracht werden, wo er praktizierte? Die Miene des Arztes verdüsterte sich. Sie würden ihren Arzt anrufen, aber sie durfte das Zimmer nicht verlassen. Das Baby lag nicht richtig.

Frédéric heftete den Blick auf das Bild. Er geriet innerlich in Aufruhr und erstarrte. Vor der Elster hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Die warme Woge der Fremden drängte sich an ihm vorbei und machte Platz für andere. Er hörte Fetzen eines Gesprächs, das in seiner unmittelbaren Nähe begann und gleich darauf wieder verstummte. Frédéric biss die Zähne zusammen und wagte es nicht, jemanden anzusehen.
    Frédéric Solis hatte Angst.
    Und plötzlich hörte er über den Lärm der Menge hinweg eine Stimme, die von weither zu kommen schien.
    »Es ist so, als würde der Maler dir sagen, schnell, schnell, schau dir diese Farben an, die der Himmel uns schenkt. Schnell, schnell, ernte diese schönen Dinge und bewahre sie in deinem Herzen. Schnell, schnell, liebe diesen Tag, der vorübergeht. Schnell, schnell, ehe die Elster davonfliegt.«
    Das war sein Vater! Es war seine Stimme! Jetzt erinnerte er sich ganz deutlich! Als sie sich gemeinsam den Kalender angesehen hatten, flüsterte sein in Vergessenheit geratener Vater ihm jene mysteriösen Botschaften zu, die dieMaler unter den Farben versteckt hatten. Frédéric, ein ganz normaler kleiner Junge, mit dem die großen Künstler sprachen, erinnerte sich auf einmal an die faszinierenden Geheimnisse, die sie ihm durch die Stimme seines Vaters verrieten. Nur ihm allein. Und in jenem Dezember, dem Unglücksmonat, war es Die Elster , die im Wohnzimmer neben dem Christbaum hing. Ja, es war die Stimme seines Vaters, und Frédéric drehte sich um,

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