Und wenn es die Chance deines Lebens ist
seines Lebens.
Eine Stunde später stand Frédéric in der eisigen Winternacht am Fenster seiner Wohnung und verbrannte ineinem Metalleimer die Fahrscheine und Eintrittskarten von Fabrice Nile und den Brief des Notars. Während die Asche der Reise, zu der er widerwillig aufgebrochen war, über den Dächern von Paris durch die Luft wirbelte, erhielt Jamel eine SMS .
Ich gehe morgen nicht ins Musée d’Orsay. Bitte ruf mich nicht mehr an. Frédéric Solis.
Bereits um acht Uhr morgens saß Jamel an Ernests Bett. Er hatte mit dem Arzt gesprochen, der allmählich mit seinem Latein am Ende war. Ernest lebte schon viel länger mit seiner schweren Krebserkrankung, als die Ärzte es prognostiziert hatten. Jetzt konnten sie nichts mehr für ihn tun. Man musste abwarten. Beten, dass ein Wunder geschah. Wieder warten. So tun, als wäre alles in Ordnung. Weiterleben wie bisher.
Jamel musterte Ernest. Er hatte eingefallene Wangen und müde Augen, aber dennoch lächelte er. Jamel fragte sich, ob er ihm von seinem gescheiterten Plan mit Frédéric erzählen und ihm sagen sollte, dass es keine Chance mehr gab. Doch wozu sollte das gut sein? Warum sollte er Ernest noch mehr Leid aufbürden? Die falschen Hoffnungen hatten letzten Endes auch ihre guten Seiten. Letzten Endes. Ja, es ging dem Ende entgegen.
»Stimmt es, dass er Vater wird?«, fragte Ernest.
Jamel antwortete ihm nicht sofort. Es hatte keinen Sinn so zu tun, als ob er nicht wüsste, wovon Ernest sprach. Er nickte.
»Stell dir vor, Jamel, ich werde Großvater. Großvater, ich ...«
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Ernest schaute auf seinen violett verfärbten Arm.
»Du hast ihn gesehen, nicht wahr?«, murmelte er.
»Ja.«
»Geht es ihm gut? Ist er glücklich?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Gut.«
»Ich werde ihn nicht wiedersehen«, sagte Jamel.
»Ah, verstehe.«
Ein Schatten huschte über Ernests Gesicht, und Jamel sah ihm an, wie aufgewühlt er war.
»Ich hätte mich so sehr gefreut, wenn du ihn getroffen hättest, aber ...«, hörte Jamel sich entgegen allen Vorsätzen sagen.
»Weißt du, Jamel«, entgegnete Ernest und ergriff die Hand des jungen Mannes, »das Leben ist ein zartes empfindliches Ding. Manchmal zieht man an einem Faden, und alles löst sich auf. Auch Frédéric musste schwere Entscheidungen treffen. Jeder geht seinen eigenen Weg.« Er senkte den Kopf, als wollte er sagen, dass sein Weg nun zu Ende war.
Jamel hätte ihm gerne gesagt, dass Frédéric unrecht mit seiner Entscheidung hatte, dass er ihn verabscheute, weil er sich der Realität verschloss, und dass es unfair war. Er hatte ihn auf jene ungewöhnliche Reise geschickt, um einen Bruder zu haben, aber auch, um Ernest seinen Sohn zurückzugeben. Er wollte ihm sagen, dass er furchtbare Angst vor der Einsamkeit hatte und sein ganzes Vermögen dafür geben würde, seinen Weg noch einmal zu kreuzen. Doch an diesem Morgen fiel es Jamel schwer auszusprechen, waser sagen wollte. Jedes Mal, wenn er Ernest anschaute, schnürte es ihm die Kehle zu.
Ernest gab Jamel einen Wink, ihm sein Fotoalbum zu reichen.
»Erinnerst du dich an Fabrice’ Schatzkarte?«
Er nahm das Foto heraus, das auch in der Kantine an der Wand hing: Fabrice, der seine Zeichnung mit einem strahlenden Lächeln stolz in die Kamera hielt.
»Ja, ich habe sie Frédéric gegeben.«
»Ich weiß.«
»Woher weißt du das?«
Ernest winkte ab, als wollte er sagen, dass es nicht von Belang sei.
»Warum hast du sie ihm gegeben?«, fragte Ernest.
»Weil ... weil ich nicht wollte, dass Fabrice’ Träume verloren gehen. Ich fand alles schön, was er sich wünschte. Es war nicht viel, aber auf der Schatzkarte sieht man auf einen Blick das Ganze. Das Wesentliche. Frédéric, der alles hat, hätte vielleicht Platz für diese Träume schaffen können. Und er hätte dich ...«
»Wo siehst du Träume, Jamel?«, unterbrach Ernest ihn.
Jamel verstand die Frage nicht. Er zeigte auf das Foto.
»Überall. Das war seine Schatzkarte.«
Ernest lächelte.
»Schau genau hin. Das Auto, das er gezeichnet hat. Das ist nicht der richtige Wagen, sondern das kleine Modellauto, das Maurice ihm geschenkt hat. Die Margeriten, die in der Kantine stehen. Die Frau in dem herzförmigen Bilderrahmen. Das ist der Rahmen, den Maurice immer bei sich trägt. Gilles’ Wahrheit, die Toleranz, die unser Credo war,und der Garten am Beginn aller Geschichten. Diese Spielkarten, erinnerst du dich, dass Fabrice immer auslegen konnte, wenn wir Rommee
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