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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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Ernest ihm an diesem Morgen gesagt hatte. Er hatte von Frieden gesprochen. Jamel spürte, dass es mit Ernest zu Ende ging. Heute war sein letzter Tag. Jamel versuchte mit aller Kraft, dieses Gefühl zu verdrängen. Doch es wollte ihm nicht gelingen.

Marcia Gärtener parkte ihr Coupé auf dem Parkplatz des Krankenhauses. Sie hatte Jamel versprochen, noch einmal über alles nachzudenken, und das hatte sie getan. Ernest Villiers war der Großvater ihres Kindes. Marcia erinnerte sich gut an ihre eigenen Großeltern und hielt ihr Andenken in Ehren. Heute würde sie Ernest mitteilen, dass er Großvater wurde. Das wollte sie umso mehr, nachdem sie von all dem Unrecht erfahren hatte, das der Mann in seinem Leben erleiden musste. Jamels Geschichte hatte sie tief berührt. Ihr Besuch würde dem todkranken Mann sicherlich Freude bereiten. Ja, es war richtig gewesen, nach Pontoise zu fahren. Wenn sie nur nicht seit dem Morgen diese Krämpfe im Unterleib gehabt hätte.
    Kurz darauf stand Marcia an der Rezeption, und ein paar Minuten später klopfte sie an die Tür des Zimmers 312. Keine Reaktion. Sie klopfte noch einmal. Die Tür war einen Spalt geöffnet. Sie stieß sie auf und starrte auf das leere, ungemachte Bett. In dem Zimmer war niemand, aber die Sachen des Patienten lagen noch da. Jamel hatte gesagt, Ernest könne sein Bett nicht mehr verlassen und die Ärzte hätten die Therapien eingestellt. War Ernest Villiers ... gestorben?
    Bei diesem Gedanken verkrampfte sich Marcias Magen. Ehe sie eine Krankenschwester nach Ernest fragen konnte, war es schon passiert. Sie schaute hinunter auf ihre Füße. Sie waren nass. Man hätte meinen können, jemand hätte einen Hahn geöffnet. Marcia verlor ihr Fruchtwasser.

Auf einem kleinen Abschnitt der Seine kann man, wenn man genau hinhört, sommers wie winters die heruntergeleierten Erklärungen der Reiseleiter der Touristenboote vernehmen. »... rechter Hand die Tuilerien, der größte und älteste Barockgarten von Paris. Und linker Hand, meine Damen und Herren ...« Hunderte Augenpaare wenden sich einem wunderschönen, imposanten, hellen Bauwerk zu, das mit bunten Fahnen geschmückt ist, die im Wind wehen. »... das Musée d’Orsay.«
    Einige der Touristen auf den Ausflugsbooten legen hier einen Zwischenstopp ein. Sie steigen die Stufen am Ufer hinauf und gesellen sich zu den zahlreichen Neugierigen, die Schlange stehen, um sich die Kunstschätze anzusehen. Unter der riesigen Uhr, die die Fassade schmückt, sehen sie aus wie Ameisen.
    Sobald die Besucher das Museum betreten haben, müssen ihre Augen sich zuerst an die ungeheuren Dimensionen gewöhnen. Die Haupthalle ist so gigantisch, dass sie den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen scheint. Ja, einst stieg man hier in Züge, und Schienen leiteten den Weg durch das Gebäude. Heutzutage leitet einen die Verzückung selbst, und man zehrt ein ganzes Leben von ihr. Man spaziert umher, wie es einem gefällt, und verirrt sich zwischen den Skulpturen, die die ganz Großen erschaffen haben. Und schließlich steigt man doch immer die Eisentreppe hinauf, um sich der großen Uhr zu nähern. Denn dort befindet sich das Gold von Orsay: die weltgrößte Sammlung impressionistischer Werke – ein magischer Ort.
    Andere Museen der Welt besucht man, um etwas zu entdecken. Manchmal auch, um zu lernen. Das ist hier nicht der Fall. Hier findet man Bekanntes vor. Egal, woher man kommt, hier trifft man alte Freunde wieder. Die kleine Ballerina von Degas, das Tanzvergnügen von Renoir, das Schlafzimmer in Arles von Van Gogh. Es ist so, als hätten sie und wir gemeinsame Erinnerungen. Dieses Bild dort hing im Esszimmer von Onkel Paul, ehe er sein Haus verkauft hat. Das Frühstück im Grünen von Manet, die Kathedralen von Monet, der Sommer von Pissarro. Das Gemälde war im letzten Studienjahr auf meinem Terminkalender abgebildet. Der Schnee in Louveciennes von Sisley, die Frauen aus Tahiti von Gauguin, das Stillleben mit Äpfeln und Orangen von Cézanne. Dieses Bild mochte Mama besonders gern, erinnerst du dich? Man kann sie ruhig duzen, so gut kennt man sie und so froh ist man, sie hier als Originale wiederzusehen.
    Wir spazieren umher, bahnen uns einen Weg durch die Menge der anderen Besucher hindurch und schauen uns die Bilder aus der Nähe an. Wir würden sie gerne berühren, als wollten wir dem Künstler die Hand schütteln. Da das aber verboten ist, machen wir ein Foto ohne Blitz.
    Nicht selten lädt uns eines dieser bekannten Bilder ein, noch ein

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