Und wenn es die Chance deines Lebens ist
mit dem Totenkopfaufnäher und dem Tattoo auf dem Arm starrte ihn an.
Hinter ihm standen Bertrand, der schwieg, und Maurice, der ihm zunickte. Alle drei musterten ihn.
Frédéric starrte die Türklinke an. Ja, das würde er jetzt auch noch schaffen. Was war schlimmer, jenes Weihnachtsfest 1979, 32 Jahre ohne seinen Vater oder der Brief, den er vor einer Stunde gelesen hatte? Er legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie hinunter.
Zuerst sah er Jamel. Und dann den alten Mann aus dem Musée d’Orsay. Er lag mit geschlossenen Augen im Bett und war von Maschinen, Schläuchen, Kabeln und Medikamenten umgeben. Jamel drehte sich zu Frédéric um. Mit einem Lächeln ging er auf ihn zu, klopfte ihm auf die Schulter und verließ das Zimmer.
Frédéric wusste nicht, ob sein Vater schlief oder bewusstlos war. Er wusste jedoch, dass er noch lebte, denn sein Brustkorb hob und senkte sich langsam. Ein paar Minuten verharrte Frédéric reglos, ehe er sich zu seinem Vater ans Bett setzte. Ernest hatte die Augen noch immer geschlossen. Um zu erfahren, ob er schlief, sprach Frédéric ihn leise an:
»Papa?«
Ernest regte sich nicht. Frédéric spürte tief in seiner Seele den Widerhall dieses Wortes, das er über 30 Jahre nicht mehr ausgesprochen hatte.
»Papa, kannst du mich hören?«
Ernest reagierte nicht. Frédéric senkte den Kopf. Vielleicht war es schon zu spät.
»Ich habe gerade deinen Brief gelesen. Wenn ich all das gewusst hätte ... Aber ich wollte es nicht wissen. Es ist meine Schuld. Als ich damals an Weihnachten gefragt habe, wo du bist, haben sie gesagt, du sitzt im Gefängnis und hättest etwas sehr Schlimmes verbrochen. Ich habe immer an dich gedacht. Als du weggegangen bist, war auch der Kalender verschwunden. Ich habe Mama eine Szene gemacht, weil der Kalender mit dem Vogel im Schnee nicht mehr dort hing. Oma und Opa haben mir dann eine Postkarte mit diesem Motiv gekauft. Die habe ich noch immer.« Es herrschte wieder Stille in dem Zimmer. Frédérics Blick glitt in die Ferne. Er hörte, dass er etwas sagte, und er hatte nicht die Kraft, die Worte zurückzuhalten.
»Weißt du, was mir an dem Bild am besten gefällt? Alle sehen den Vogel. Ich hingegen sehe die Schritte im Schnee, weißt du, die Schritte, die im Schatten der Elster beginnen und das Bild verlassen. Für den kleinen Jungen, der ich damals war, waren es deine Schritte. Nur im Schnee kann man die Spuren der Menschen sehen, die fortgegangen sind.«
Er verstummte und holte tief Luft. Ernest bewegte sich noch immer nicht. Frédéric redete weiter und sprach aus, was ihm auf der Seele brannte.
»Viele Leute werden sich gewundert haben, dass ich keine Fragen gestellt habe. Weil du in meiner Erinnerung der perfekte Vater für mich warst. Ich behielt dich in bester Erinnerung, und ich wollte nicht, dass jemand daran rührte, niemand, auch du nicht. So hatte ich zwar keinen Vater mehr, aber zumindest schöne Bilder, an die ich mich erinnern konnte. Jetzt weiß ich, dass das ein Fehler war.Ich hatte nicht den Mut dazu. Das ist der Grund. Verzeih mir.«
In diesem Augenblick hörte Frédéric die krächzende Stimme seines Vaters, dem das Sprechen große Mühe bereitete.
»Du hattest den Mut, der zu werden, der du heute bist.«
Frédéric schaute Ernest in die Augen. Obwohl sich sein Brustkorb nun in rascher Folge hob und senkte, strahlte sein Körper eine Ruhe aus, die das ganze Zimmer zu beherrschen schien.
»Du hattest den Mut, meiner Abwesenheit nicht die Schuld für deine Schwächen zu geben. Den Mut, dem ungewöhnlichen Weg zu folgen, den Jamel vorgezeichnet hat. Den Mut, hier in dieses Zimmer zu kommen. Ich bin sehr stolz, dein Vater zu sein.«
Frédéric wollte ihm antworten, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Weißt du, Frédéric, für uns ist es zu spät«, fuhr Ernest fort. Als er sah, dass sein Sohn Einwände erheben wollte, schloss er kurz die Augen, damit er ihn nicht unterbrach.
»Es führt zu nichts, wenn wir uns streiten. Das Leben hat so entschieden. Es trifft viel mehr Entscheidungen, als man glaubt, weißt du. Zum Beispiel der Kleine, der in diesem Krankenhaus zur Welt kommen wird, glaubst du, das ist Zufall?«
»Welcher Kleine?«
»Dein Sohn.«
»Marcia ist hier?«, fragte Frédéric verwirrt.
»Ja, sie ist schon im Kreißsaal.«
Es schien fast so, als wollte Frédéric sofort aufspringen,aber offenbar fehlte ihm die Kraft, und er schaute stattdessen auf seine Hände. Ernest hielt den Blick auf seinen Sohn
Weitere Kostenlose Bücher