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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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um Ausschau nach ihm zu halten, doch eine Gruppe chinesischer Touristen umringte ihn. Frédéric stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte mit weit aufgerissenen Augen den Saal nach dem Mann ab, den er vor 32 Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Er sah einen Familienvater aus Indien, eine Gruppe Rentner, einen Museumswärter, der auf einem Stuhl eingeschlafen war, und Geschäftsleute mit Krawatten. Sein Vater war nicht unter ihnen. Hatte er sich wie damals kurz vor Weihnachten 1979 in Luft aufgelöst? Frédérics Blick fiel auf einen gebrechlichen Mann mit feuchten Augen, und er wollte ihn schon fragen: Haben Sie meinen Vater gesehen? Doch dann entdeckte er Jamel, der reglos inmitten der Menge stand. Er trug einen kleinen Lederkoffer in der Hand.

Jamel sah Frédéric nicht, der sich einen Weg in seine Richtung bahnte. Sein Blick war auf Ernest gerichtet, der hinter Frédéric stand und nun auf Krücken ein paar Schritte ging, um seinem Sohn zu folgen, der ihm erneut zu entwischen drohte. Jamel wusste, welche Kraftanstrengung diese wenigen Schritte für den Mann bedeuteten. Als Frédéric fast bei ihm angelangt war, brach Ernest langsam zusammen. Gilles und Bertrand, die sich hinter einer Wand versteckt hatten, eilten blitzschnell herbei, ehe er zu Boden sank. Ernest murmelte Bertrand etwas ins Ohr. Dieser zögerte und wechselte einen Blick mit Gilles. Dann gingen die drei Männer davon und tauchten in der Menge unter. Jamel schaute ihnen nach, doch er verlor sie schnell aus den Augen, und plötzlich stand Frédéric vor ihm. Er hatte nichts von all dem mitbekommen, was sich hinter seinem Rücken abgespielt hatte.
    Jamel musterte ihn wortlos. Er hatte alles vergessen, was er sagen wollte. Schließlich reichte er ihm den kleinen Koffer.
    »Der ist für dich«, sagte er.
    »Was muss ich dafür tun?«, fragte Frédéric.
    »Nichts. Gar nichts.«
    Jamel schickte sich an zu gehen.
    »Vielleicht hat all das in wenigen Stunden keine Bedeutung mehr. Warte also nicht«, sagte er noch, bevor er verschwand.

Frédéric stand allein inmitten der Menschenmenge im Museum. Jamel war irgendwohin verschwunden, und er war ihm nicht gefolgt. Er hielt den kleinen Koffer in seiner kalten Hand und ging weiter. Wohin sollte er gehen? Er musste sich ein ruhiges Plätzchen suchen, wo er den Koffer öffnen konnte. Jamel hatte gesagt, er solle nicht warten. Frédéric ging auf das Museumscafé zu. An den Tischen saßen Dutzende von Touristen. Ihre Silhouetten glichen einem Schattenspiel hinter der riesigen Uhr, deren Ziffernblatt der Himmel von Paris ausfüllte. Frédéric verlor die Orientierung. Diese Uhr konnte nicht die Uhr sein, die hoch oben in der Halle der Skulpturen hing. Es musste eine andere sein, die ebenfalls riesengroß war.
    Er kehrte um und verlief sich in den Gängen. Am Ende des Gebäudes blieb er vor einer provisorisch errichteten Stellwand stehen, die den Zugang zu einem dunklen Raum versperrte. Dort wurde vermutlich eine Sonderausstellung vorbereitet. Frédéric schlich hinter die Wand in einen Saal, in dem aufgestapelte Stühle und Gerüste standen. Er ging ein paar Schritte hinein und entdeckte hinter einer anderen provisorisch errichteten Wand eine weitere riesige durchsichtige Uhr, die dritte in dem Museum, unddurch diese konnte man auf die Seine blicken. Hier würde ihn niemand vermuten. Die Uhr war wie ein Fenster. Er setzte sich auf den Rand.
    Mit zitternden Händen öffnete Frédéric den kleinen Koffer.
    Er hielt den Atem an und starrte eine ganze Weile reglos auf das Bild unten in dem Koffer. Das war Die Elster von Monet, auf einer Hälfte der Doppelseite des Kalenderblattes vom Dezember 1979. Auf der anderen Hälfte erkannte er seine Schrift und die seiner Eltern. Frédéric erinnerte sich an den letzten Tag, an dem sie alle zusammen waren. Der Termin seines Vaters in Giverny, die Termine seiner Mutter und das Wort »Weihnachtsmann«, das er unter den 25. geschrieben hatte. Obwohl das Kalenderblatt zerknickt und vergilbt war, erschien ihm die Erinnerung daran wie eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit, als die Welt noch in Ordnung war. Frédéric strich über das Kalenderblatt, und vielleicht stellte er sich vor, dass die Uhr hinter ihm rückwärtsging und im Dezember 1979 stehen blieb. Dann sah er den Briefumschlag. Er erkannte ihn wieder. Das war der Brief, den er vor 17 Jahren nicht hatte lesen wollen. Frédéric blickte auf die Seine und auf den Schnee, der unaufhörlich vom Himmel fiel. Er

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