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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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erinnerte sich an Jamels Worte. »Warte nicht.« Er riss den Umschlag auf und begann zu lesen.
    Alles stand darin. Auf fast zehn Seiten hatte sein Vater seine Lebensgeschichte erzählt. Die Begegnung mit Simon in Giverny; die schwere Entscheidung, die er treffen musste;das Ultimatum seiner Frau; die Weihnachtsgeschenke, die stets zurückgeschickt wurden. Die vielen Jahre der großen Liebe und des großen Kummers. Erinnere dich an die große Liebe, die den Winter tief in ihrem Inneren verbarg . Sein ungeheurer Stolz auf seinen Sohn, der einen Studienplatz in Amerika bekommen hatte. Es war die Rede von einem Herzinfarkt und der Begegnung mit einem Jugendlichen namens Jamel, den er sozusagen adoptiert hatte. Die Entscheidung, ihm diesen Brief zu schreiben. Wie hypnotisiert las Frédéric weiter. Sein Vater schlug ein Treffen in den Weihnachtsferien im nächsten Winter im Musée d’Orsay vor.
    Wie groß mochte seine Enttäuschung gewesen sein, als er den Brief ungeöffnet zurückbekam? Frédéric starrte in die Dunkelheit des verlassenen Museumssaals.
    Warum hatte er den Brief nicht geöffnet an jenem Tag auf dem grünen Rasen auf dem Harvard-Campus? Warum war er der Wahrheit ausgewichen? Nur um traurige Illusionen weiter am Leben zu erhalten? Endlich begann er zu weinen. Unter der großen Uhr im Musée d’Orsay flossen ihm jetzt die Tränen des kleinen Jungen, die er an jenem Weihnachtsmorgen 1979 nicht geweint hatte, über die Wangen.
    Plötzlich wurde ihm alles klar. Der kranke alte Mann, den er vorhin gesehen hatte, war sein Vater. Ja, er musste es gewesen sein. Wenn er nicht mehr vor Der Elster stand, musste er jetzt im Krankenhaus in Pontoise sein. Noch war Zeit.
    In diesem Augenblick tauchte hinter der provisorischen Wand ein Museumswärter auf, der seine Rundedrehte. Die Männer erschraken beide, und Frédéric sprang von dem Sitzplatz unter der Uhr herunter. Ein paar Minuten später hastete er durch die Straßen von Paris und trotzte dem Schnee, der ihm ins Gesicht peitschte.

ENGEL:
    Oscar?
    OSCAR:
    Ja?
    ENGEL:
    Es ist so weit.
    OSCAR:
    Ich wusste, dass du das sagen würdest. (Pause.) Gut, wenn ich jetzt gehen muss ... Ach, du hast mir gar nicht gesagt, ob dir meine Geschichte gefallen hat.
    ENGEL:
    Ja, sie ist schön. Ein bisschen traurig vielleicht. Und sie ist noch nicht zu Ende.
    OSCAR:
    Ich weiß, dass sie noch nicht zu Ende ist. Ich werde aber nicht mehr da sein, um dir den Schluss zu erzählen.
    ENGEL:
    Das Ende der Geschichte ist der Beginn einer neuen Geschichte. Auf Wiedersehen, Oscar.
    OSCAR:
    Ciao, Engel.
    Der Engel näherte sich Oscar, und ein gleißendes Licht hüllte ihn ein.

24. Dezember, 17:07 Uhr
    Frédéric rannte durch den Bahnhof. Auf seinem Gesicht glitzerten Schweißperlen. Das Blut pochte in seinen Schläfen, und er sah immer wieder dieselben Bilder vor Augen: eine riesige Uhr und ein Meer welker Blumen.
    Ein Krankenwagen mit heulenden Sirenen hielt am Eingang des Krankenhauses in Pontoise an. Auf der Trage lag Ernest. Er war bewusstlos. Der Sanitäter, Bertrand, Maurice und Gilles drängten sich um ihn. Ein Arzt schrie Jamel etwas zu, der Ernests Hand hielt.
    Im Kreißsaal ertönte der Alarm. Ein Arzt wurde gerufen, und eine zweite Hebamme eilte herbei. Marcia wusste nicht, was vor sich ging. Sie versuchte sich auf die furchtbaren Schmerzen zu konzentrieren, die sich in ihrem Körper ausbreiteten.

24. Dezember, 18:09 Uhr
    Frédéric betrat die Eingangshalle des Krankenhauses in Pontoise und fragte, in welchem Zimmer Ernest Villiers lag. Die junge Frau an der Rezeption schaute ihn verlegen an und drehte sich zu einer Kollegin um.
    »Wo ist Monsieur Villiers jetzt ...?«
    Ihre Kollegin murmelte etwas, was Frédéric nicht verstehen konnte.
    »Zimmer 312 auf der dritten Etage«, sagte sie schließlich.
    Frédéric stieg im Eilschritt die Treppe hinauf und lief den Gang hinunter. Endlich fand er das Zimmer 312. Er blieb stehen. Seit über einer Stunde war er ununterbrochen gelaufen. Nachdem er den abgelegenen Saal im Musée d’Orsay verlassen hatte, war er so schnell gerannt, als wollte er einen Wettlauf gewinnen. Jetzt stand er vor der Tür. Es war die letzte Tür in diesem sonderbaren Adventskalender, die noch geöffnet werden musste. Doch er konnte sich nicht entschließen, sie zu öffnen. Wie gelähmt stand Frédéric vor dem Zimmer 312, als er eine Stimme hinter sich hörte.
    »Das schaffst du jetzt auch noch.«
    Er drehte sich um. Es war Gilles. Der 17-Jährige mit seiner Mütze

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