Und wenn es die Chance deines Lebens ist
gerichtet.
»Für dich und mich ist die Sache gelaufen«, sagte der alte Mann schließlich. »Wir beide müssen dankbar sein für das bisschen Zeit, das uns noch bleibt. Doch du musst heute eine Entscheidung treffen. Du kannst nach Hause fahren und zulassen, dass Marcia sich einen anderen Vater für ihr Kind sucht. Jamel hat mir erzählt, dass sie sich schon darauf eingestellt hat. Sie wird einen Ehemann und einen Vater für ihren Sohn finden, und ich bin sicher, dass sie glücklich sein werden. Du wirst frei und ungebunden sein, um dein Leben so zu leben, wie du es möchtest. Dein Sohn wird dich niemals kennenlernen, und du wirst deinen Sohn niemals kennenlernen, und niemand wird darunter leiden.«
Er verstummte kurz. Frédéric starrte zu Boden.
»Oder du gehst zwei Stationen weiter und triffst dort deinen Sohn. Sobald du ihn angesehen hast, wirst du die Angst kennen, ihn zu verlieren, und diese Angst wird dich niemals mehr loslassen. Dein Leben gehört dir von da an nie mehr ganz allein, und dieser Blick wird dich bis ans Ende deiner Tage gefangen halten. Wie das Leben es auch immer entscheiden mag, ob dein Sohn in deiner Nähe oder fern von dir ist oder ob er nicht mehr da sein wird, du wirst bis zu deinem letzten Atemzug Vater sein.«
Frédéric schaute seinem Vater in die Augen.
»Wenn wir unsere Geschichte noch einmal neu beginnen könnten, Frédéric ...«, murmelte Ernest, »wäre mir der Kummer über die 30 Jahre deiner Abwesenheit in meinemLeben lieber als der Gedanke, dich niemals gekannt zu haben.«
Frédéric sprang auf und umarmte seinen Vater. Eine ganze Weile verharrten sie so. Frédéric stellte Tausende Uhren zurück, um die Wärme seines Vaters, dem er immer einen Platz in seinem Herzen bewahrt hatte, wie damals zu spüren. Ernest drückte seinen Sohn mit all der Kraft, die er gar nicht mehr hatte, an sich.
Ein paar Minuten später verließ Frédéric das Krankenzimmer und lief zur Entbindungsstation.
9:05 Uhr
Das Baby hatte das Licht der Welt erblickt. Es war ein gesunder Junge. Nachdem Marcia stundenlang in den Wehen gelegen hatte, musste dringend ein Kaiserschnitt durchgeführt werden. Sie war soeben aus der Vollnarkose erwacht. Ihr Baby war schon ein paar Stunden alt.
Sie spürte, dass ihr jemand das Baby auf die Brust legte. Ein paar Minuten lang sah sie nur das Kind. Ihren Kleinen. Den Jungen, den sie schon seit neun Monaten kannte und den sie in diesem Augenblick, dem glücklichsten ihres Lebens, liebevoll betrachtete. Sie schauten einander an und gaben sich, ohne dass ein einziges Wort fiel, das Versprechen, einander ein Leben lang zu lieben.
Dann schien das Baby seine dunklen Augen auf eine andere Person im Zimmer zu richten, und Marcia folgte automatisch seinem Blick. Sie entdeckte Frédéric, der sie anlächelte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ah, jetzt wusste sie auch, dass er es gewesen war, der ihr das Baby auf die Brust gelegt hatte.
Marcia erinnerte sich später kaum noch daran, was er genau gesagt hatte. Ihr kurzes Gespräch verlor sich inder Benommenheit der Narkose, deren Nachwirkungen sie noch spürte. Doch auch in diesem Fall waren Worte überflüssig. Sie hatte verstanden. Frédéric und sein Sohn hatten schon miteinander gesprochen und sich ebenfalls das Versprechen gegeben, einander ein Leben lang zu lieben.
Frédéric ging auf das Zimmer 312 zu. Er war Vater eines Jungen geworden und wollte es seinem Vater sagen. Er würde stolz sein auf seine Entscheidung, dachte Frédéric. Im Grunde war jedoch nicht er es gewesen, der die Entscheidung getroffen hatte, sondern sein Sohn, der sie für sie beide traf. Dieses erstaunliche Kind, das bereits die ganze Welt verstand. Ernest würde wahnsinnig glücklich sein. Jetzt war er Großvater. Als Frédéric die Tür des Zimmers 312 öffnete, fiel sein Blick sofort auf Jamel und das leere Bett. Mit Tränen in den Augen packte Jamel die Sachen zusammen. Er sah mitgenommen aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Ernest war gestorben.
»Wann ...?«
»Heute Nacht.«
Jamel nahm Ernests Fotoalbum in die Hand, doch Frédéric winkte ab, er wollte es sich jetzt nicht ansehen. Er setzte sich aufs Bett, nahm das Handy aus der Tasche und reichte es Jamel.
Jamel betrachtete das ein wenig unscharfe Bild eines zerknitterten Babys.
»Mein Sohn ...«, murmelte Frédéric.
»Herzlichen Glückwunsch, Frédéric. Und wie heißt er?«
»Oscar.«
»Weißt du, dass das Monets erster Vorname war?«
Frédéric
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