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Und wir scheitern immer schoener

Titel: Und wir scheitern immer schoener Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Bedenken der Beteiligten. Coming home, going down.
     
    Ich betrete das Haus meiner Eltern. Es ist irgendein Jahr des neuen Jahrhunderts. Es riecht nach Fett und Tränen. Frisch gebraten und geweint. Im Flur flackern Kerzen. Akribisches Weihnachtsdesign strahlt von den Wänden und berichtet vom Geschick der Mutter. Ich habe zwei Päckchen in der Hand, ansonsten Leere.
     
    In diesem Haus habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht. Mein Vater hat es mit eigenen Händen und geliehenem Geld aus dem Boden gestampft.
     
    Ich betrete das Wohnzimmer, in dem sich meine Eltern befinden. Sie sind immer hier um diese Zeit. Jedes Jahr sitzen sie hier. So auch heute. Das Wohnzimmer ist abgedunkelt, die einzigen Lichtquellen sind diverse zuckende Teelichter und ein rot-golden dekorierter Weihnachtsbaum. Darunter die Postgeburtsszenerie von Jesus Christus, nachgestellt mit Tonfiguren. In der Krippe sieht es kalt aus.
     
    Chris Rea singt aus Mutters Radio, dass er es cool findet, Weihnachten nach Hause zu fahren. «Driving home for Christmas ...», so rockt der gute Mann Christmas. Dieses Lied, diese Stimme, diese Stimmung, zusammengefasst: dieser beschissene Kitsch erregt mentale Destruktivität und gedankliche Autoaggression in mir. Bestimmt sind schon andere Menschen während dieses Liedes gestorben, weil sie einfach vergessen haben zu atmen.
     
    In der Sofaecke sitzt meine Mutter in einer unbequemen Haltung und hat feuchte Augen. Zwiebelschneiden und Weihnachtenfeiern machen diesen negativen Zauber. Sie sieht mich stumm an und ich sehe in ihr verheultes Gesicht, in ihre Kummersehschlitze, die gerötet und geädert glänzen. Das ist jedes Jahr so. Depression und Weihnachtsfeier. Mentale Wüstenlandschaften in ihrem Gesicht, und ihre Augen sind tränendurchflutete Oasen, die niemand betreten mag. Trauer-Power ...
     
    Ich weiß, dass meine Mutter täglich weint. Ich weiß, dass sie mich gerne öfter sehen und sprechen würde. Ich ahne, dass sie ein Geheimnis hat, wahrscheinlich aus ihrer Kindheit, dessen Offenbarung ihre eigenen, eng gesetzten Moralgrenzen sprengen würde. Mit zitternder Stimme begrüßt sie mich. Ihre Neurosen zerfahren ihr Innerstens und sie kämpft um ihren Ausdruck, der aber ein elender bleibt. Seit ich nicht mehr in diesem Haushalt wohne, fällt es mir immer schwerer, diese Frau zu verstehen.
     
    Ihr gegenüber sitzt mein alter Vater. Schon wieder weniger Haare. Sein Gesicht durchziehen tiefe Furchen, aber die Lachfalten um seine stahlblauen Glitzeraugen machen aus ihm eine positive Erscheinung. Sein Verfall ist unaufhaltsam und in meinen Besuchsabständen sehr gut mitzuverfolgen. Er ist ein rasant alternder Arbeiter. Auch er hat feuchte Augen, resultierend aus dem in ihm befindlichen Chaos der Freude mich zu sehen und seinem Restleben: Maloche, Psychofrau, toter anderer Sohn und die Unfähigkeit, nicht aus diesem Leben, dieser verdorbenen Existenz ausbrechen zu können.
     
    Es ist das zweite Weihnachtsfest ohne meinen Bruder. Der starb bei einem Unfall. Er ‹frontalcrashte› eine junge Frau, die ebenfalls verstarb. Genau dieser Abgang passte zu seinem kurzen Leben. Sein Körper war mächtig verstümmelt, wie auch sein Kopf. Er war ein Live-fast-die-young-Mensch, und der Drive-fast-die-krass-Tod passte in sein Lebenskonzept. Ich habe das begriffen. Der Tod gehört zum Leben. Manchmal ist er das Leben. Stellenweise nur durch Atmen und Nicht-Atmen zu unterscheiden. Das ist manchmal alles. Es ist alles so einfach.
     
    Ich bin zu Tisch mit meinen Feuchte-Augen-Eltern. Wir essen. Die Nahrung ist fleischlastig, Herzinfarkt fördernd und Cholesterinspiegel hebend. Mutter serviert die Magen füllenden Speisen aus ihrer depressiven Küche: Es gibt Schnitzel, Kroketten und als fettfreie Beilage grünen Salat. Dazu eine braune Soße. Tradition serviert mit Tränen. Die Tragik steckt im Detail.
     
    Dazu gibt es Rotwein. Den hat mein Vater ausgesucht. Er trinkt schnell. Besaufen hat für ihn immer noch einen großen Realitätsverdrängungsaspekt. Diesen rechne ich ihm hoch an. Will mich auch besaufen mit meinem tränenreichen Vater, aber ich will ja später noch mit dem Wagen zurück. Deswegen trinkt der Held der Arbeit allein. Gewohnheitssache.
     
    Wir reden nicht über meinen Bruder. Totschweigen des Toten ist angesagt. Aber die Wahrheit ist schwer zu belügen ...
     
    Irgendwann ist auch mal mein Opa gestorben. Das Oberhaupt einer großen Familie. Ein Mann, der im Krieg war und der nach Hause kam. Ein

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