Und wir scheitern immer schoener
das überlebt zu haben, ging mein Leben von da ab einfacher. Die Schwingungen der Schüsse, die mich nicht trafen, machten mich lächelnd. Die Dankbarkeit für bewusste Atemzüge war in mir, weil ich den Krieg besiegt hatte.
Ein anderes schlimmes Erlebnis ist, dass ich meine kleine Tochter fast getötet hätte. Ich trank, um der Realität zu entkommen, nur wenige Male. Sie wollte väterlichen Kontakt und Hilfestellung in irgendeiner Sache. Ich stieß sie zurück, taumelnd fiel sie in eine Glastür mit dem Gesicht voran. Narben blieben, aber ich glaube, sie hat mir verziehen.
Jetzt ist mein Leben der stinkende, faulende, dahinsiechende Rest des Ganzen. Ohne Ende Erinnerungen. Fast hundert Jahre war eine Seele konserviert in einer immer schon zerbrechlichen Hülle. Fragil. Risse und Narben. Menschen sind ja so ‹kaputtbar›. Das Leben ist eine Wunde, die täglich neu eitert. Aber es muss nicht immer weh tun.
Als ich heute Morgen geistig verzerrt aufwachte, weil 3.40 Uhr Morphiuminjektion, wusste ich, dass dieser Tag der letzte sein würde. Das Gefühl war sehr stark. Ein allerletztes Frühstück durch die Magensonde als Reiseproviant ins Jenseits. Blutspucken. Meine Speiseröhre ist irreparabel durchlöchert. Ich warte. Erwarte Veränderung.
Irgendetwas zirkuliert im Raum. Der Vollscheißer hat es wieder mal getan. Alles wird anders. Es kommt ein Tod geflogen. Setzt sich nieder in den Leib und frisst die Seele. Ich hoffe auf ein gnädiges Sterben.
Meine Familie wurde angerufen, weil es so exitusmäßig um mich steht. Da stehen meine Kinder mit ihren Kindern und blicken silbrig tränendurchflutet drein. Worte fallen aus ihren Gesichtern. Gnädige, gute Worte der lebhaften Erinnerung an mich. Ich öffne meine Augen nur noch minütlich, aber alle sind da. Auch die alte Frau im Rollstuhl ist zugegen, aus deren Schoß all diese Existenzen gekrochen kamen. Barbara, ich liebe deinen Atem. Der soll noch viele Jahre aus dir kommen.
Das Scherbengesicht ist auch da. Ich sehe sie lächeln und weiß, sie hat mir verziehen. Sie ist die Einzige, die keine Kinder hat.
Die kleinen Geschöpfe in diesem Raum, grinsend und tobend, rechtfertigen meine schlappe Existenz ungemein.
Barbaras Hand umklammert matt die meine. Ich spüre ihre Liebe, aber auch dieses Wegen-dir-Scheißtyp-verpasse-ich-heute-die-Lindenstraße-Feeling. Alles in einer Hand und von Hand zu Hand gesagt. Wir haben nie viele Worte gebraucht, weil Liebe so selbstverständlich ist wie die Welt. Sie wird mich vermissen, ist aber jemand, der so viel versteht. Leben. Tod. Lindenstraße. Alles.
Dann wird es in meinem Körper spürbar kälter. Metastasen haben Hunger. Fraß Richtung Gehirn. Da trifft sich was aus Schmerzen und Gedanken, was ich nicht kenne. Flach der Atem. Die Augen besser schließen und sich in sich selbst verstecken. Vielleicht fliegt der Tod dann vorbei. Nein, ich spüre die Sau kommen. Seine Nähe ist unvermeidbar. Wie damals auf dem Rückweg aus Russland.
Atemausgang. Herzstillstand. Gehirn runterfahren. Dämmerwelt. Nichts hat Bestand. Nichts beinhaltet Gefahr. Alles geht und sterben muss jeder. Ich jetzt. In diesem Augenblick. Korridor entlanglaufen. Alles weiß. Nebelflut. Ich zähle in mir von zehn runter rückwärts.
10 – Es ist so weit.
9 – Die Einsamkeit des Sterbens ist wie ein Stück Kuchen, mit Liebe gebacken.
8 – Am Ende allein, aber schön, dass es euch gibt.
7 – Erkenntnis der Gedankenauflösung
6 – Jetzt reicht es aber auch.
5 – Es riecht nach Scheiße und dieses Mal war ich es.
4 – Barbara, komm bald nach, ich brauche deine Gegenwart!
3 – Und Sie sind also Gott, ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.
2 – Herzlich willkommen in der Zwischenwelt!
1 – Heraus aus der Zwischenwelt ins seelische Endlager.
0 – Ich bestehe nur noch aus einer unsichtbaren, fliegenden Seele. Es beginnt die totale Auflösung des Seins, splitterförmig atomisiert, ein Ende erkennbar und die Liebe Gottes fühlend.
Es gibt da einen Pfad zu erkunden, neu zu gehen, gesäumt von Nebelschwaden, weißer als weiß. Alles ist optimal temperiert. Das ist der Weg. Ich gehe ihn bis zum Ende. Ohne Qual. Ohne Sorge.
Der Weg weg. Raus.
Fin.
Sentimentales Schnitzel
Es ist Weihnachten und ich bin auf dem Weg zu meinem Elternhaus. Zwangsfamilienzusammenführung nach den und trotz der moralischen
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