Und wir scheitern immer schoener
Geschichtenerzähler sondergleichen, auf dessen Schoß man ewig Kind sein wollte. Er starb auf der Pflegestation eines Krankenhauses.
Aber Opa war alt und voller Krebs. Der Vater meines Vaters. Die frühen Generationen brechen einfach so weg. Er ist im Krankenhaus verstorben. Wir waren bei ihm, als er ging. Es hat mir nichts bedeutet. Alle sagten, es war besser, vor allem die sonderbare Tante Irmgard. Den Kranken und Alten der Tod. Opa war fünfundneunzig. Diesen Tod haben meine Eltern gut verdaut. Meines Vaters Blick ein nach vorn gerichteter. Stolz auf seinen alten Vater, den Verlierer gegen Innenorgankrebs. Das ist jetzt drei Jahre her.
Ich esse auch vom toten Schwein, obwohl ich eigentlich Vegetarier bin. Vielleicht kann ich so dieses Elend besser nachvollziehen. Solidarität mit Tätern und Opfern. Ich schlucke das tote Tier in mich hinein und werde ganz weich davon im Kopf.
Manchmal vermute ich, dass meine Mutter meinen Vater langsam mit dieser fettigen Nahrung töten will, nur aus dem Grund, weil so viel Scheiße in ihr steckt, die nicht raus kann. Deswegen auch viele ihrer Neurosen.
«Nimm doch noch ein drittes Schnitzel!» Ein Mutterwort mit melancholischem Unterton, aus dem Undankbarkeit und Elend wimmern.
«Ne, eigentlich bin ich total satt.» Väterlicherseits wird sich bequem Rotwein schlürfend zurückgelehnt.
«Ach, komm ...» Mutters Gabel übernimmt den Fleischtransport auf Vaters Teller.
«Hm ...» Mein Vater beginnt zu Essen, ohne Widerwillen und Genuss. Er kaut schmatzend. Wie eben ein Arbeiter Fleisch verzehrt.
Dieser Tragik wohne ich stumm bei. Mein Vater kaut lautlos die gebratene Schweineleiche und es ist noch Salat da. Den nimmt meine Mutter und genießt dazu ein leicht blubberndes Mineralwasser. Alles rein in den Heulkopf und nichts raus. Ihre Sentimentalitäten werden nicht zu Worten. Nie.
Das Essen findet glücklicherweise irgendwann ein Ende. Ich finde nichts mehr. Nicht mal mehr mich selbst. Erkenne nur, dass ich der Sohn meiner Eltern bin, weil ich ab und zu aus dem Nichts feuchte Netzhäute bekomme und einfach so losheulen könnte. Das Schnitzel im Bauch macht träge und ich trinke Wasser.
Aus dem Radio wird weiterhin Christmas gerockt und zwar fürchterlicher als zuvor. «Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day, you gave it away, this year, to save me from tears, I give it to someone special.» Tu das, George Michael, aber lass mich bitte damit in Ruhe. Sein Wham!-Kollege musiziert sich einen zurecht, und das Lied wird von mir schlimmer als je zuvor empfunden. Folter, Folter, keine Gnade. All diese künstlichen Sentimentalitäten werden mir zu viel. Als ob die realen Probleme nicht schon ausreichen würden.
Ich schenke ihnen was. Den Eltern, den Guten. Tee für meine Mutter, damit sie sich gesund fühlen kann, obwohl sie ja neurologisch gesehen vollkommen destroyed ist. Ein Garten voller rot blühender Neurosen. Socken für meinen alten Vater, der sich für diese Banalität überschwänglich bedankt. Auf den Baustellen dieser Welt ist es arschkalt um diese Jahreszeit und hier im Haus sowieso, obwohl die Heizung ganze Arbeit leistet.
Die Zeit vergeht und verrinnt unter Schweigen und dem Austausch von Belanglosigkeiten. Es werden Nüsse geknackt und am Rande versuche ich, mit meinen Eltern über Globalisierung zu reden, wenn sie schon nicht persönlich werden wollen. Sie wollen beides nicht. Es wird später.
Irgendwann gehe ich, verabschiede mich mit einem «Bis demnächst» und meine doch nur: «Gut, dass es vorbei ist.» Ich habe noch Kraft meinen Familienmitgliedern an diesem Heiligen Abend ein Lächeln zu widmen, das aber nur eine Maske ist, denn in mir ist Chaos der Familie wegen.
Ich verlasse mein Elternhaus. Draußen hat es sieben Grad unter Null, doch ich empfinde emotionale Wärme, als ich die Haustür schließe, hinter der meine Eltern ein Leben leben, das ich nicht verstehen kann.
Ich steige in mein Auto und mache das Radio an. Punkrock durchflutet mein Gehirn und ich beginne mit Reflexionen des Abends und meines Lebens. Außerdem setzt Verdrängung ein. Ganz bewusst.
Alles scheint so leicht zu überwinden
für tausend Jahre, tausend Male und immer wieder MORGEN
der Vertrag geht zum Teufel durch die Flucht ins Wort
und irgendwann stirbt er leise, keiner weiß
...
auf der Stelle sitzend, wie ausgeweidet
für tausend Jahre
er wartet, wartet und immer wieder MORGEN
der Vertrag geht zum
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