Undercover
dem Vater, einmal ganz kurz. Wie Sie bestimmt wissen, möchte nicht jeder mit dem Pathologen sprechen. Die Hinterbliebenen kommen mit unserer Rolle bei der ganzen Sache nicht klar, stellen eigentlich immer nur eine Frage.«
»Ob der oder die Verstorbene gelitten hat.«
»Genau«, sagt Dr. Hunter. »War auch so gut wie das Einzige, was Janie Brolins Vater wissen wollte. Er verlangte eine Kopie der Todesurkunde, jedoch nicht den Obduktionsbericht. Weder er noch seine Frau kamen her. Die Leiche wurde zusammen mit den wenigen persönlichen Gegenständen der Toten nach London zurückgebracht. Er wollte nichts Genaueres wissen.«
»Ungewöhnlich für einen Arzt.«
»Nicht für einen Vater.«
»Was sagten Sie ihm, als er fragte?«
»Ich sagte, sie hätte gelitten. Ich lüge nicht. Man kann nicht lügen.« Win muss an Stump denken.
»Wenn man jemandem sagte, was er hören will, zum Beispiel, der Tote hätte nicht gelitten, was würde dann passieren, wenn der Fall vor Gericht käme und die Verteidigung erführe, dass man das behauptet hat?«, sagt Dr. Hunter. »Dann würde man bei einer Lüge ertappt - so gut gemeint sie auch war. Die eigene Glaubwürdigkeit bekäme einen Knacks. Nun gut. Ich gebe Ihnen, was ich habe. Es ist nicht viel.«
Leise summt der Rollstuhl, als Dr. Hunter zur Tür fährt. »Habe ausgegraben, was ich finden konnte, als ich in den Nachrichten davon hörte. Dachte mir schon, dass jemand vorbeikommen würde, und ich lag ja richtig.« Vom Flur aus: »Diese Unordnung bei mir in den Schränken, unter den Betten …« Verstummt. Dann wieder: »Ein paar Sachen von damals, weil wir es schon besser wussten.«
Er hält den Rollstuhl an, einen Pappkarton auf dem Schoß, redet weiter: »Zunächst mal: Harvard war nicht sonderlich begeistert von seinem Institut für Rechtsmedizin, sonst gäbe es das nämlich noch. Einigen von uns Pathologen gefiel der polizeiliche Aspekt daran, wir führten nur zu gern Obduktionen durch, waren >Kriminalärzte<, wie man uns damals nannte. Aber wir hielten an unseren eigenen Vorstellungen fest, an dem, was uns wichtig schien oder was wir zu Lehrzwecken verwenden wollten, denn uns war vollkommen klar, dass es, wenn wir das Licht hinter uns ausmachten, nirgendwo jemanden geben würde, dem unser Vermächtnis auch nur das Geringste bedeutete. Ach, übrigens: Haben Sie sie auf YouTube gesehen?«
Lamont. Und wieder muss Win an Stump denken.
»Es ist unglaublich, was die Leute heutzutage machen«, sagt Dr. Hunter. »Bin froh, dass ich nicht mehr in Ihrem Alter bin. Bei mir geht’s munter immer weiter bergab. Worauf soll man sich noch freuen, höchstens auf Privatvideos von Fremden und, na ja … Eine meiner Enkelinnen ist im Irak. Und ich müsste eigentlich mit vielen Freunden im Altersheim sitzen, jedenfalls mit denen, die noch da sind. Bin seit fünf Jahren auf der Warteliste, vor kurzem war ich dran. Kann es mir aber nicht leisten, weil ich das Haus nicht verkaufen kann. Gar nicht lange her, da haben sie sich darum gestritten.« Dr. Hunter weist auf den Computer auf seinem Schreibtisch mit Blick auf den Fluss. »Ich nenne es eine Cyber-Seuche. Wenn die Schleusentore einmal geöffnet sind … Sie wissen, was dann kommt.«
»Entschuldigung …?«
»Monique Lamont, meine ich. Das zweite Video ist noch schlimmer. Sehen Sie!« Er winkt Win heran, deutet auf den Computer. »Ich bekomme Google-Warnungen bei relevanten Meldungen - Staatsanwältin, Verbrechen, Stadtverwaltung -, weil ich mich über Middlesex County auf dem Laufenden halte. Denn zufällig lebe ich hier.«
Win begibt sich an den Computer, geht ins Internet, und er braucht nicht lange, bis er das neueste Video findet, das nun die virtuelle Runde macht:
Die Commodores singen »Ow, she’s a brick house …«, während Lamont, einen Sicherheitshelm auf dem Kopf, mit anderen Offiziellen und Bauarbeitern die tonnenweise heruntergefallenen Betondeckenplatten in einem Tunnel in der Nähe des Bostoner Logan Airport besichtigt.
Dann sagt eine Stimme aus einem ihrer alten Wahlkampfspots: »Allem auf den Grund gehen, Gerechtigkeit fordern.« Als Lamont sich vornüberbeugt und einen verbogenen Stahlträger inspiziert, rutscht ihr maßgeschneiderter Rock hoch bis zum Po.
Dr. Hunter sagt: »Stammt offenbar von diesem Unglück beim Straßenbau letzten Sommer, diese Riesenbaustelle, wo der Tunnel einstürzte und ein Auto unter sich begrub, die Fahrerin wurde getötet. Ich war noch nie ein Fan von Monique Lamont, aber langsam tut
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