Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Freunde verloren, als die Türme eingestürzt sind. Nicht nur Cops. Auch Feuerwehrmänner. Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Leute, die ich seit Jahren kannte.« Das sagte sie, als könnte diese Feststellung sie gegen die später ausgebrochene Verrücktheit schützen. Ich äußerte mich nicht dazu, saß die meiste Zeit still da und rief mir Gespräche ins Gedächtnis zurück. Alle möglichen Leute hatten stundenlang mit mir geredet. John Sansom, Lila Hoth, die Kerle nebenan. Ich erinnerte mich an alles, was sie gesagt hatten, wie ein Schreiner mit der Handfläche über gehobeltes Holz fährt, um raue Stellen auszumachen. Es gab ein paar. Es gab seltsame Halbkommentare, eigenartige Nuancen, nicht weiter erklärte Andeutungen. Ich konnte nichts mit ihnen anfangen. Noch nicht. Aber allein die Tatsache, dass ich von ihrer Existenz wusste, war bereits nützlich.
Um neunzehn Uhr dreißig brachten sie Jacob Mark zurück und nahmen an seiner Stelle Theresa Lee mit. Keine Handschellen. Keine Ketten. Jake setzte sich mit untergeschlagenen Beinen und dem Rücken zur Kamera auf sein Bett. Ich sah ihn fragend an. Er zuckte kaum merklich mit den Schultern und verdrehte die Augen. Dann ließ er die Hände auf dem Schoß, wo die Kamera sie nicht sehen konnte, und imitierte mit Daumen und Zeigefinger eine Schusswaffe. Er tippte sich auf den Oberschenkel und sah meinen an. Ich nickte. Das Narkosegewehr. Er streckte zwei Finger zwischen den Knien aus und hielt einen dritten seitlich links hoch. Ich nickte erneut. Zwei Kerle am Tisch, einer links von ihnen mit dem Gewehr. Vermutlich an der Tür des dritten Raums. Als Wachposten. Deshalb keine Handschellen, keine Ketten. Ich rieb mir die Schläfen und fragte mit lautlosen Lippenbewegungen: »Wo sind Ihre Schuhe?«
Jake antwortete auf die gleiche Weise: »Keine Ahnung.«
Danach saßen wir schweigend da. Ich wusste nicht, woran Jake dachte. Vermutlich an seine Schwester. Oder an Peter. Ich hatte die Wahl. Gegen etwas kämpfen kann man immer auf zweierlei Weise. Von innen oder von außen. Ich war der Typ, der lieber von außen kämpfte – seit jeher.
Um zwanzig Uhr brachten sie Theresa Lee zurück und nahmen mich wieder mit.
45
Keine Handschellen. Keine Ketten. Anscheinend glaubten sie, ich hätte Angst vor dem Narkosegewehr. Was bis zu einem gewissen Grad auch stimmte. Nicht weil ich mich vor kleinen Stichwunden fürchtete. Und auch nicht weil ich etwas gegen Schlaf an sich hatte. Ich schlafe mindestens so gern wie jeder andere. Aber ich wollte nicht noch mehr Zeit vergeuden. Ich hatte das Gefühl, es mir nicht leisten zu können, weitere acht Stunden auf dem Rücken zu liegen.
Im Raum nebenan waren die Agenten genauso verteilt, wie Jacob Mark mir bedeutet hatte. Der Chefagent saß schon auf dem mittleren Stuhl. Der Kerl, der mir heute Morgen die Ketten angelegt hatte, ließ mich mitten im Raum stehen und ging weiter, um seinen Platz rechts neben dem Chefagenten einzunehmen. Der Typ, der die Franchi gehabt hatte, stand jetzt mit dem Narkosegewehr an der linken Tür. Meine Habseligkeiten lagen noch immer auf dem Tisch. Oder sie lagen wieder da. Ich bezweifelte, dass sie dort gelegen hatten, als Mark oder Lee vernommen wurden. Zwecklos. Kein Grund. Nicht relevant. Sie waren wieder eigens für mich hingelegt worden: Bargeld, Reisepass, Bankkarte, Zahnbürste, Metrocard, Lees Visitenkarte, gefälschte Visitenkarte, USB -Stick und Handy. Neun Gegenstände. Alle richtig und vollzählig vorhanden. Das war gut, denn ich musste mindestens sieben von ihnen mitnehmen.
Der Kerl auf dem mittleren Stuhl sagte: »Setzen Sie sich, Mr Reacher.«
Ich ging zu meinem Stuhl und spürte, wie die drei sich entspannten. Sie hatten die ganze Nacht und den ganzen Tag gearbeitet. Hinter ihnen lagen schon zweistündige Verhöre. Eine Vernehmung ist harte Arbeit. Sie erfordert Konzentration und geistige Beweglichkeit. Sie macht einen kaputt. Also waren diese drei Männer müde. Müde genug, um ihren Biss eingebüßt zu haben. Sobald ich zu meinem Stuhl unterwegs war, dachten sie nicht mehr an die Gegenwart, sondern an die Zukunft. Sie glaubten, es werde keine Schwierigkeiten geben. Sie überlegten, mit welcher Frage sie beginnen würden. Sie nahmen an, ich würde mich setzen und sie mir anhören. Bereit sein, sie zu beantworten.
Sie täuschten sich.
Einen halben Schritt vor meinem Ziel hob ich einen Fuß auf Höhe der Tischkante, streckte das Bein und schob kräftig an. Ich trat nicht
Weitere Kostenlose Bücher