Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
finden, das Narkosegewehr nachladen und die beiden anderen Agenten damit betäuben. Und ich wollte meine Schuhe.
Beides würde ich nicht bekommen.
Ich ging strumpfsockig zu den Zellen zurück. Jacob Mark und Theresa Lee blickten auf, dann weg und wieder mich an. Klassische verzögerte Reaktionen, weil ich allein war und das Narkosegewehr in der Hand hielt. Sie hatten vermutlich den Lärm gehört und angenommen, ich würde handgreiflich vernommen. Bestimmt hatten sie mich nicht so bald oder gar nicht zurückerwartet.
Lee fragte: »Was ist passiert?«
Ich sagte: »Sie sind eingeschlafen.«
»Wie das?«
»Das Gespräch mit mir hat sie gelangweilt, denke ich.«
»Dann sitzen Sie jetzt echt in der Scheiße.«
»Im Gegensatz wozu?«
»Vorher waren Sie unschuldig.«
Ich sagte: »Werden Sie erwachsen, Theresa.«
Sie gab keine Antwort. Ich kontrollierte die Schlösser an den Zellentüren. Qualitätsartikel, die teuer und sehr präzise aussahen. Sie hatten geriffelte Drehknöpfe, die von einem Kranz mit eingravierten Zahlen von eins bis sechsunddreißig umgeben waren. Die Knöpfe ließen sich nach rechts und links drehen. Als ich sie versuchsweise drehte, hörte ich sie leise surren und spürte in den Fingern nur einen schwachen mechanischen Widerstand. Hochpräzise gearbeitete Teile. Ganz bestimmt waren keine klickend einrastenden Zuhaltungen zu spüren.
Ich fragte: »Wollen Sie, dass ich Sie raushole?«
Lee sagte: »Das können Sie nicht.«
»Würden Sie das wollen, wenn ich’s könnte?«
»Warum sollte ich das nicht wollen?«
»Weil Sie dann echt in der Scheiße säßen. Bleiben Sie, spielen Sie ihr Spiel mit.«
Sie gab keine Antwort.
Ich sagte: »Jake, was ist mit Ihnen?«
Er fragte: »Haben Sie unsere Schuhe gefunden?«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber Sie könnten sich ihre leihen. Die Größe müsste ungefähr passen.«
»Was ist mit Ihnen?«
»In der Eighth Street gibt es Schuhgeschäfte.«
»Da wollen Sie barfuß hingehen?«
»Wir sind hier in Greenwich Village. Wenn ich hier nicht barfuß herumlaufen kann, wo sonst?«
»Wie können Sie uns rausholen?«
»Probleme und Lösungen aus dem neunzehnten Jahrhundert gegen Sachzwänge aus dem einundzwanzigsten. Aber das wird nicht einfach. Deshalb muss ich wissen, ob ich damit anfangen soll. Und Sie müssen sich rasch entscheiden. Weil uns nicht viel Zeit bleibt.«
»Bevor sie aufwachen?«
»Bevor die Baumärkte schließen.«
Jake sagte: »Okay, ich will raus.«
Ich sah zu Theresa Lee hinüber.
Sie sagte: »Ich weiß nicht recht. Ich habe nichts verbrochen.«
»Haben Sie Lust hierzubleiben und das zu beweisen? Weil das schwierig ist. Etwas Negatives ist immer schwer zu beweisen.«
Sie gab keine Antwort.
Ich sagte: »Ich habe Sansom erzählt, wie wir die Rote Armee studiert haben. Wissen Sie, wovor die Russen die größte Angst hatten? Nicht vor uns. Am meisten gefürchtet haben sie die eigenen Leute. Ihr größter Kummer war, für den Rest ihres Lebens immer wieder ihre Unschuld beweisen zu müssen.«
Lee nickte.
»Ich will raus«, erklärte sie.
»Okay«, sagte ich. Ich prüfte die Dinge, die ich prüfen musste. Schätzte die Abmessungen und Gewichte durch Augenschein.
»Warten Sie hier«, sagte ich. »In weniger als einer Stunde bin ich zurück.«
Mein erster Halt war nebenan. Die drei Feds waren noch immer bewusstlos. Der Chefagent würde volle acht Stunden außer Gefecht sein. Oder auch länger, weil er weniger als zwei Drittel meines Gewichts auf die Waage brachte. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich, ihn umgebracht zu haben. Vielleicht war eine für einen Mann meiner Größe bestimmte Dosis für kleinere Menschen gefährlich. Aber der Kerl atmete ruhig und gleichmäßig. Und er hatte angefangen, also lag das Risiko bei ihm.
Die beiden anderen würden viel früher aufwachen. Vielleicht schon bald. Gehirnerschütterungen waren unberechenbar. Also ging ich in den Vorraum, riss alle Computerkabel aus der Wand und benutzte sie dazu, die beiden Kerle kunstgerecht zu fesseln. Handgelenke, Ellbogen, Fußknöchel, Hälse, alle eng miteinander verbunden. Kupferkabel aus mehreren Litzen, zähe Kunststoffumhüllungen, unzerreißbar. Ich zog meine Socken aus, knotete sie zusammen und stopfte sie dem Kerl mit der Platzwunde als Knebel in den Mund. Unangenehm für ihn, aber vermutlich bekam er eine Gefahrenzulage, die er sich jetzt eben verdienen musste. Den anderen Typen knebelte ich nicht. Seine Nase war zertrümmert, und ein
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