Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
den du da spürst. Geh weiter. Setz einen Fuß vor den anderen. Verlasse diesen Wald.
Noch ein paar Meter stolpere ich vorwärts, und dann lehne ich mich keuchend an einen Baum und versuche, neue Kraft zu sammeln. In dem Moment höre ich hinter mir die Stimme eines Mannes, die durch die Bäume zu mir schwebt, als würde sie vom Wind getragen. Ganz entschieden keine menschliche Stimme.
«Hallo, kleines Vögelchen», sagt er.
Ich stehe da wie gelähmt.
«Das war ja ein übler Sturz. Ist alles in Ordnung mit dir?»
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Höllischer Schmerz
Ganz, ganz langsam drehe ich mich um. Keine vier Meter von mir entfernt steht der Mann da und mustert mich mit neugierigem Blick.
Er ist wahnsinnig schön. Ich kann kaum glauben, dass mir das damals im Einkaufszentrum nicht aufgefallen ist. Ich schätze, Vollblutengel müssen einfach hinreißend sein, aber mir war nicht klar, dass sie so zum Niederknien schön sind. Gäbe es eine Form für die vollendete männliche Gestalt, dann wäre dieses Wesen ihr entstiegen.
Er ist nicht, was er zu sein scheint. Er ist weder alt noch jung, auf seiner Haut ist nicht die winzigste Falte, nicht der kleinste Makel zu sehen, sein Haar glänzt und ist kohlrabenschwarz. Doch ich weiß, er ist so alt wie die Steine unter meinen Füßen. Er wirkt unnatürlich reglos. Die Traurigkeit, die ich in jedem einzelnen Nerv spüre, zeigt sich nicht auf seinem Gesicht. Die Mundwinkel hat er leicht hochgezogen, es sieht aus wie ein Lächeln voller Mitgefühl. Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, dass seine Stimme freundlich ist und er mir wirklich helfen will. Ganz und gar nicht so, als wäre er ein richtig böser Engel, der mich mit dem kleinen Finger töten könnte. Als wäre er einfach ein besorgter Mensch, der zufällig vorbeigekommen ist.
Ich kann nicht laufen. Es gibt keinen Ausweg. Fliegen kann ich auch nicht. Der Kummer raubt mir meine Leichtigkeit wie ein Schatten, der sich vor die Sonne schiebt. Wahrscheinlich werde ich sterben. Am liebsten würde ich nach meiner Mutter rufen. Durch die Verzweiflung des Schwarzflügels hindurch, die schwer wie ein nasses Tuch auf mir liegt, versuche ich mich daran zu erinnern, dass auf der anderen Seite eines dünnen Schleiers der Himmel liegt und dass dieser Mann, dieses Wesen, das so tut, als wäre es ein Mann, meinen Körper töten, aber nicht an meine Seele rühren kann.
Bis zu diesem Moment hatte ich keine Ahnung, dass ich das wirklich glaube. Der Gedanke macht mir ein wenig Mut. Ich versuche, nicht an Tucker und Jeffrey und all die anderen Menschen zu denken, die ich zurücklassen werde, wenn dieses Wesen mich tötet. Mühsam richte ich mich gerade auf und sehe ihm in die Augen.
«Wer bist du?», will ich wissen.
Er sieht mich an und zieht eine Augenbraue hoch.
«Du bist ein mutiges kleines Ding», sagt er und macht einen Schritt auf mich zu. Wenn er sich bewegt, ist in der Luft um ihn herum eine Art Surren, das sich legt, wenn er stehen bleibt. Je länger ich ihn ansehe, desto weniger menschlich erscheint er, als wäre der Körper, der da vor mir steht, nur ein Anzug, den er heute Morgen angezogen hat, und als wäre darunter ein anderes Wesen, das vor Kummer und Wut pulsiert und sich nur mit Mühe im Zaum hält. Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu.
Ich trete zurück. Er lacht kurz und leise, ein Kichern, doch das Geräusch führt dazu, dass mir ein Schauer der Furcht vom Kopf bis zu den Zehen fährt.
«Ich bin Sam», sagt er. Er hat einen vagen Akzent, den ich keiner bestimmten Gegend zuordnen kann. Er spricht in leisem, singendem Tonfall, er versucht, mich zu beruhigen.
Ich finde, dass dies ein ziemlich lächerlicher Name für dieses Wesen ist, von dem eine kalte, dunkle Macht ausgeht, die der Gegensatz des Himmels zu sein scheint. Beinahe muss ich lachen. Ich weiß nicht, ob es der entsetzliche Schmerz in meiner Schulter ist oder das Gewicht der emotionalen Last, aber ich spüre, dass ich den Bezug zur Realität verliere. Schon breche ich zusammen, und die Folter hat noch nicht einmal begonnen. Alles in mir wird allmählich gefühllos, als ob mein Körper es nicht mehr erträgt und sich Stück für Stück vor allem verschließt. Das ist eine riesige Erleichterung.
«Wer bist du ?», fragt er spitz.
«Clara.»
«Clara», wiederholt er, als ob er meinen Namen auf der Zunge spüre und er ihm schmecke. «Angemessen, denke ich. Auf welcher Stufe stehst du?»
Die Taktik meiner Mutter, mich über alles im Dunkeln
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