Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
zu lassen, zahlt sich ausnahmsweise aus. Ich habe keine Ahnung, was er mit seiner Frage meint. Ich nehme an, ich sehe genauso ahnungslos aus, wie ich mich fühle.
«Wer sind deine Eltern?», fragt er.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmecke. Ich spüre einen seltsamen Druck im Kopf, als ob er mein Gehirn nach der Information, die er will, abtastet. Ich weiß, es wird für alle tödlich enden, wenn er es herausfindet. Ich sehe das Gesicht meiner Mutter aufblitzen, dann versuche ich verzweifelt, an etwas anderes zu denken. Ganz egal, an was.
Versuch es mit Eisbären, sage ich mir. Eisbären am Nordpol. Kleine Eisbären, die im Schnee hinter ihren Müttern hertapsen. Eisbären, die Coca Cola trinken.
Er starrt mich an.
Eisbären, die durch die Eisdecke stoßen, um Seehundbabys zu fangen. Lange, scharfe Eisbärenzähne. Eisbären mit rosa Maul und rosa Pfoten.
«Ich könnte dich zwingen, es mir zu erzählen», sagt der Engel. «Aber es wäre angenehmer für dich, wenn du es freiwillig tust.»
Eisbären, die verhungern. Eisbären, die schwimmen und schwimmen und nach festem Grund und Boden Ausschau halten. Eisbären, die ertrinken, deren Körper im Wasser auf und ab schaukeln. Ihre Augen glasig und tot. Arme tote Eisbären.
Langsam geht er einen weiteren Schritt auf mich zu. Hilflos sehe ich ihn an. Mein Körper weigert sich, er will nicht reagieren auf das dringende Bedürfnis davonzulaufen.
«Wer sind deine Eltern?», fragt er geduldig.
Mir fällt nichts mehr über Eisbären ein. Der Druck in meinem Kopf nimmt zu. Ich schließe die Augen.
«Mein Vater ist menschlich. Meine Mutter ist ein Dimidius », sage ich schnell, in der Hoffnung, dass ihn das zufrieden stellen wird.
Mein Kopf wird leichter. Ich mache die Augen auf.
«Du bist stark für ein Wesen mit so schwachem Blut», sagt er.
Es ist mir gleichgültig. Ich bin nur erleichtert, dass er nicht mehr versucht, Kontrolle über mein Gehirn zu erlangen. Doch ich weiß, er wird es erneut probieren. Er wird die Namen aus mir herausbekommen. Wo wir wohnen. Alles. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, meine Mutter zu warnen.
Dann fällt mir mein Handy ein.
«Ja, ich bin für dich nicht viel wert. Also wieso lässt du mich nicht gehen?» Während ich das sage, lasse ich die Hand in meine Jackentasche gleiten. Gut, dass mein Handy in der linken Tasche ist, denn mein rechter Arm ist wie abgestorben. Ich taste nach der Zwei und drücke sie; bei dem leisen Piepston schrecke ich innerlich zusammen und bete, dass der Schwarzflügel nicht nah genug bei mir ist, um es zu hören. Meine Finger umklammern den Lautsprecher.
«Ich will nur mit dir reden», sagt er sanft. Er spricht wie meine Mutter: In dem einen Moment klingt er völlig normal und modern, im nächsten altmodisch, als wäre er direkt den Seiten eines Romans aus dem neunzehnten Jahrhundert entsprungen.
«Hallo?», sagt meine Mutter.
«Hab keine Angst», sagt er. Er kommt näher. «Es würde mir nicht im Traum einfallen, dir weh zu tun.»
«Clara?», sagt meine Mutter leise. «Bist du das?»
Ich muss ihr die Nachricht übermitteln. Nicht, damit sie mich rettet, denn ich weiß, dass das nicht möglich ist. Aber damit sie sich selbst in Sicherheit bringt.
«Ich will nur weg von hier», sage ich so laut und deutlich wie nur möglich, ohne den Argwohn des Engels zu wecken. «Ich will hier weg und niemals wiederkommen.»
Er macht noch einen Schritt auf mich zu, und plötzlich befinde ich mich im Umkreis seines dunklen Glanzes. Das Gefühl der Taubheit vergeht. Ich spüre nun die volle Wucht der Traurigkeit, einen Schmerz so tief und roh, der wie ein Holzpflock in meine Brust gerammt wird.
Was hat meine Mutter immer gesagt? Dass Engel so beschaffen sind, dass sie Gott gefallen wollen, und wenn sie dem entgegenarbeiten, verursacht das all diesen emotionalen und körperlichen Schmerz?
Dieser Typ leidet grausame Qualen. Er führt nichts Gutes im Schilde.
«Deine Schulter ist ausgerenkt», sagt er. «Halt still.»
Seine kalten, steinharten Finger umklammern mein Handgelenk, ehe ich Zeit habe, irgendwas wahrzunehmen, und dann gibt es ein lautes Knacken, und ich schreie und schreie, bis mir die Stimme wegbleibt. Eine Mauer aus Grau schiebt sich in mein Blickfeld. Die Arme des Engels umfangen mich. Er zieht mich an seine Brust, als ich zusammenbreche.
«Nun ist es gut», sagt er und streicht mir übers Haar.
Ich lasse das Grau über mich kommen.
Als ich erwache, nehme ich ganz langsam
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