Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

fängt ihn aus der Luft. Als er meinen Blick zur geschlossenen Tür von Mamas Arbeitszimmer sieht, lächelt er mich erwartungsvoll an.
    «Na schön», sage ich. «Ich lass schon mal den Motor warm laufen.»

    «Na bitte», sagt er, als wir langsam die lange Straße zur Schule entlangfahren. «Fahren auf Schnee ist schon mal kein Problem für dich. Du wirst noch ein richtig guter Autofahrer.»
    Er ist verdächtig nett.
    «Okay, was ist los mit dir?», frage ich. «Was willst du?»
    «Die haben mich ins Ringerteam aufgenommen.»
    «Wie hast du das denn geschafft? Die Probekämpfe waren doch schon im November?»
    Er zuckt mit den Schultern, als sei das keine große Sache. «Ich hab den besten Ringer im Team zum Kampf rausgefordert. Und ich hab gewonnen. Das ist eine kleine Schule. Die brauchen Wettkämpfer.»
    «Weiß Mama das schon?»
    «Dass ich jetzt im Team bin, hab ich ihr erzählt. Begeistert war sie nicht. Aber sie kann uns ja nicht alle schulischen Aktivitäten verbieten, oder? Ich bin es so leid, diesen ganzen Mist von wegen ‹Haltet euch zurück, sonst findet noch einer raus, dass wir anders sind›. Wenn ich mal einen Kampf gewinne, werden ja nicht gleich alle sagen: Wer ist denn der Junge; der ist ein richtig guter Ringkämpfer, das ist doch bestimmt ein Engel.»
    «Stimmt schon», antworte ich unsicher. Aber Mama ist definitiv nicht die Frau, die Regeln einfach nur so zum Spaß aufstellt. Es muss einen Grund für ihre Vorsicht geben.
    «Also, es ist so: Ich brauche jemanden, der mich zum Training fährt», sagt er und rutscht unbehaglich auf dem Sitz hin und her. «Also, zu allen Trainingsstunden.»
    Einen Moment lang herrscht Stille. Nur der Heizlüfter, der uns Luft um die Beine pustet, ist zu hören.
    «Um welche Zeit?», frage ich schließlich. Ich ahne Schreckliches.
    «Halb sechs in der Frühe.»
    «Ha.»
    «Ach, komm schon.»
    «Soll Mama dich doch fahren.»
    «Sie hat gesagt, wenn ich schon unbedingt ins Ringerteam will, soll ich auch selbst dafür sorgen, dass ich zum Training komme. Ich soll Verantwortung für mich übernehmen.»
    «Tja, dann viel Glück!» Ich lache.
    «Bitte. Es wäre bloß für ein paar Wochen. Dann wird mein Kumpel Darrin sechzehn, macht den Führerschein und kann mich abholen.»
    «Mama wird begeistert sein.»
    «Komm schon, Clara. Ich hab was gut bei dir», sagt er leise.
    Er hat tatsächlich was gut bei mir. Schließlich bin ich schuld daran, dass sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde. Wobei er allerdings nicht sonderlich zu leiden scheint.
    «Du hast gar nichts gut bei mir», antworte ich. «Aber … meinetwegen. Allerdings auf keinen Fall länger als sechs Wochen, dann musst du dir einen anderen Chauffeur suchen.»
    Er scheint sich wirklich zu freuen. Möglich, dass wir zwei, er und ich, auf einem guten Weg sind und bald alles wieder so wird wie vorher. Schuldenabbau, so könnte man das wohl nennen, oder? Sechs Wochen in aller Herrgottsfrühe raus ist eigentlich ein guter Preis, wenn er mich hinterher nicht mehr hasst.
    «Eine Bedingung hab ich allerdings», informiere ich ihn.
    «Die wäre?»
    Ich lege meine Kelly-Clarkson-CD ein. «Wir hören meine Musik.»

    Wendy trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck Die Pferde haben meine Hausaufgaben gefressen .
    «Du bist klasse», flüstere ich, als wir im Englischleistungskurs unsere Plätze einnehmen. Ihr derzeitiger Schwarm, Jason Lovett, starrt vom anderen Ende des Klassenzimmers zu uns rüber. «Guck jetzt nicht hin, aber dein Traumprinz kann die Augen nicht von dir lassen.»
    «Halt den Mund.»
    «Ich hoffe, er kann gut mit Pferden umgehen, denn ihr müsst doch zusammen in den Sonnenuntergang reiten.»
    Der Gong ertönt, und Mr Phibbs eilt nach vorn in die Klasse.
    «Zehn Extrapunkte für denjenigen, der das Zitat auf meinem T-Shirt einordnen kann», verkündet er. Er stellt sich gerade hin und strafft die Schultern, damit wir den Aufdruck vorn auf seinem T-Shirt lesen können. Wir beugen uns alle vor und kneifen die Augen zusammen, um die winzige Schrift zu entziffern: Wenn die Wissenschaft uns eines lehrt, dann lehrt sie uns, unsere Misserfolge genauso zu akzeptieren wie unsere Erfolge, mit Gelassenheit, mit Anstand und mit Würde .
    Das ist nun wirklich nicht schwer. Das Buch haben wir ja letzte Woche erst gelesen. Ich sehe mich um, aber keiner hat die Hand oben. Wendy gibt sich alle erdenkliche Mühe, den Augenkontakt mit Mr Phibbs zu vermeiden, damit er sie nur ja nicht aufruft. Jason Lovett dagegen gibt sich