Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
ein zusätzliches Paar Gliedmaßen, von denen ich mein ganzes Leben lang nichts gewusst hatte. Ich schätzte, dass die Spannweite gute drei bis dreieinhalb Meter betrug. Genau konnte ich es nicht sagen, da der Spiegel nicht groß genug war, um sie komplett wiederzugeben.
Flügelspannweite, dachte ich und schüttelte den Kopf. Ich habe eine Flügelspannweite. Verrückt.
Ich betrachtete die Federn. Manche waren sehr lang, glatt und spitz, andere weicher, etwas runder. Die kürzesten Federn, die meinem Körper am nächsten waren, genau an der Stelle, an der meine Flügel an der Schulter zusammenliefen, waren klein und daunenzart, etwa so groß wie mein Daumen. Ich packte eine der Federn und zog daran, bis sie sich löste, was so heftig brannte, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Intensiv begutachtete ich diese Feder in meiner Hand und versuchte, mich mit dem Gedanken anzufreunden, das sie von mir stammte. Einen Augenblick lang lag sie einfach in meiner Handfläche, und dann fing sie ganz allmählich an zu verblassen, so als löste sie sich in Luft auf, bis nichts mehr von ihr übrig war.
Ich hatte Flügel. Ich hatte Federn. Ich hatte Engelblut in mir.
Und was wird jetzt?, fragte ich mich. Werde ich fliegen lernen? Mit den Beinen baumelnd auf einer Wolke sitzen und an einer Harfe zupfen? Botschaften von Gott empfangen? Furcht machte sich in mir breit. Unsere Familie konnte man kaum als religiös bezeichnen, aber ich hatte immer an Gott geglaubt. Und nun fand ich heraus, dass es ein Riesenunterschied war, ob man an Gott glaubte oder ob man wusste, dass er existierte und offensichtlich einen ziemlich wichtigen Plan für mein Leben hatte. Das war echt abgefahren – um es vorsichtig auszudrücken. Meine Vorstellung vom Universum und von meinem Platz darin war in weniger als vierundzwanzig Stunden komplett auf den Kopf gestellt worden.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Flügel wieder verschwinden lassen konnte, also klappte ich sie hinter meinem Rücken so eng wie möglich zusammen und legte mich aufs Bett; die Arme ließ ich seitlich hängen, sodass ich die Flügel unter mir spürte. Im Haus war es ruhig. Es fühlte sich an, als ob alle anderen auf der Welt schliefen. Alle anderen waren dieselben geblieben, nur ich hatte mich verändert. In der Nacht blieb mir nichts anderes übrig, als mit diesem Wissen dazuliegen, verwirrt und verängstigt, und sacht die Federn unter mir zu streicheln, bis ich endlich einschlief.
[zur Inhaltsübersicht]
Der heiße Bozo
Christian und ich besuchen nur einen Kurs gemeinsam; seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, wird also keine leichte Aufgabe sein. Jeden Tag suche ich mir im Kurs Englische Geschichte sorgfältig einen Platz aus, damit die Chance besteht, dass er neben mir sitzen wird. Im Lauf von zwei Wochen stehen die Sterne genau dreimal günstig, und er landet neben mir. Ich lächle und sage hallo. Er lächelt zurück und sagt hi. Einen Moment lang scheint eine unleugbare Kraft uns wie Magnete zueinander hinzuziehen. Aber dann klappt er sein Notizbuch auf oder guckt sich unter dem Pult die Nachrichten auf seinem Handy an und gibt so zu erkennen, dass unser Schönes-Wetter-heute-Geplauder zu Ende ist. Als wenn in diesen wenigen entscheidenden Sekunden einer der Magnete umgedreht und nun von mir weggezogen wird. Christian ist nicht unhöflich oder so; er ist einfach nur nicht sonderlich interessiert daran, mich näher kennenzulernen. Und wieso sollte er auch? Er hat ja keine Ahnung von der Zukunft, die uns erwartet.
So beobachte ich ihn also heimlich eine Stunde am Tag und versuche, mir so viel wie möglich einzuprägen, wobei ich natürlich nicht sicher sein kann, was mir eines Tages nützlich sein wird. Er trägt gern Hemden mit Button-Down-Kragen, die Ärmel hat er lässig bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und immer die gleiche Art Seven-Jeans in leicht unterschiedlichen Schwarz- und Blautönen. Er benutzt Notizblocks aus recyceltem Papier und schreibt mit einem grünen Kugelschreiber. Er weiß fast immer die richtige Antwort, wenn Mr Erikson ihn aufruft, und falls nicht, macht er einen Scherz darüber, was bedeutet, dass er clever und bescheiden ist und witzig. Er mag Pfefferminzbonbons von Altoids. Immer mal wieder greift er in die hintere Hosentasche, holt das kleine silberne Schächtelchen raus und schiebt sich ein Pfefferminz in den Mund. Ich schließe daraus, dass er damit rechnet, geküsst zu werden.
Und in dem Zusammenhang fällt mir auf, dass Kay jeden
Weitere Kostenlose Bücher