Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
alle erdenkliche Mühe, den Augenkontakt mit Wendy herzustellen. Angela Zerbino, die sonst immer mit der richtigen Antwort aufwarten kann, kritzelt etwas in ihren Notizblock, wahrscheinlich dichtet sie ein kompliziertes Epos über die Ungerechtigkeit ihres Lebens. Irgendwer ganz hinten putzt sich die Nase, und ein Mädchen fängt an, mit den Fingernägeln auf den Tisch zu trommeln, aber keiner sagt etwas.
«Wirklich keiner?», fragt Mr Phibbs erschüttert. Da hat er sich die Mühe gemacht, das T-Shirt bedrucken zu lassen, und dann erkennt keiner von seinen Schülern aus dem Leistungskurs eine Passage aus dem Roman, den sie gerade gelesen haben.
Ach verdammt. Ich melde mich.
«Miss Gardner», sagt Mr Phibbs, und seine Miene hellt sich auf.
«Ja, also, das ist aus Frankenstein , oder? Die Ironie bei dem Zitat ist, dass Dr. Frankenstein den Satz sagt, bevor er nur wenige Augenblicke später das Monster tötet, das er geschaffen hat. So viel zu Anstand und Würde, denke ich.»
«Ja, das ist wirklich ironisch», freut sich Mr Phibbs. Er schreibt meine zehn Extrapunkte auf. Ich versuche, so auszusehen, als wäre ich stolz darauf.
Wendy schiebt mir einen Zettel hin. Ich warte einen Moment, dann falte ich ihn unauffällig auseinander.
Streber , steht da. Rat mal, wer heute nicht da ist. An den Rand hat sie ein Smiley gezeichnet. Ich gucke mich noch mal im Klassenraum um. Dann fällt mir auf, dass heute keiner versucht, mir ein Loch in den Hinterkopf zu starren.
Kay fehlt.
Ich lächle. Das wird ein herrlicher Tag.
«Ich hab die Broschüre über das Praktikum beim Tierarzt mitgebracht, von der ich erzählt habe», sagt Wendy, als der Gong zur Mittagspause läutet. Sie folgt mir, als ich auf den Korridor schieße, die Treppe runterlaufe und auf meinen Garderobenschrank zurenne. Sie muss joggen, um mit mir Schritt zu halten.
«Bist du kurz vor dem Verhungern, oder was?», fragt sie lachend, als ich die Kombination in mein Vorhängeschloss eingebe. «Heute gibt es Meatball Sandwiches. Die und die Baked Potatoes, das sind hier die besten Mahlzeiten im ganzen Jahr.»
«Was?» Ich bin zerstreut, ich suche im Meer vorbeiziehender Gesichter nach einem Paar vertrauter grüner Augen.
«Na, jedenfalls, das Praktikum ist in Montana. Wirklich toll ist das.»
Da. Da ist Christian. Er steht vor seinem Garderobenschrank. Keine Kay weit und breit in Sicht. Er zieht seine Jacke an – schwarzer Fleece-Stoff – und nimmt seine Schlüssel. Freude durchströmt mich.
«Ich gehe heute zum Essen raus», sage ich schnell und schnappe mir meinen Parka.
Wendys Mund formt ein kleines Oh, so überrascht ist sie. «Du bist gefahren?»
«Ja. Jeffrey hat mich dazu überredet, ihn in den nächsten Wochen zu chauffieren.»
«Cool», sagt sie. «Wir könnten zu Bubba’s . Tucker hat mal da gearbeitet, da kriege ich also immer Rabatt. Und essen kann man da wirklich gut, das kannst du mir glauben. Warte, ich hole bloß meinen Mantel.»
Christian will das Gebäude verlassen. Ich habe nicht viel Zeit.
«Eigentlich, Wen, hab ich einen Arzttermin», sage ich unsicher und hoffe, sie wird nicht nachfragen, bei welchem Arzt.
«Oh», sagt sie. Ich sehe, dass sie nicht sicher ist, ob sie mir glauben soll.
«Ja, und ich will nicht zu spät kommen.»
Christian ist schon fast bei der Tür. Ich schließe meinen Schrank ab, drehe mich zu Wendy um und versuche, ihr nicht direkt in die Augen zu sehen. Ich bin eine erbärmliche Lügnerin. Aber jetzt habe ich keine Zeit für ein schlechtes Gewissen. Es geht hier schließlich um meine Aufgabe.
«Ich sehe dich dann nach der Schule, okay? Ich muss jetzt los.»
Dann sprinte ich zum Ausgang.
Ich folge Christians silbernem Avalanche, als er vom Parkplatz fährt, wobei ich ein paar Autos zwischen uns lasse, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass ich ihm nachfahre. Er fährt zu einem Pizza-Hut-Restaurant ein paar Blocks von der Schule entfernt. Mit einem Typen, den ich vage aus meinem Englischkurs kenne, steigt er aus dem Auto.
Ich werde einfach so tun, als wäre ich total zufällig auf sie getroffen.
«Oh, he», brummele ich mir selbst mit Blick in den Rückspiegel zu und tue überrascht. «Ihr kommt auch öfter hierher? Kann ich mich zu euch setzen?»
Und dann wird er mich mit diesen schimmernden grünen Augen ansehen und wird zu mir sagen: «Klar», und das mit dieser leicht heiseren Stimme, und dann wird er schnell einen Sitz weiterrücken und für mich am Tisch Platz machen, und der Stuhl
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