Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
und hoch bis zu den Dachsparren.
«Na komm», sagt sie.
Ich starre ihr hinterher und denke an den riesigen Schaden, den ich wahrscheinlich anrichte, wenn ich es mit dem Fliegen versuche.
«Ich fürchte, ihr habt euer Theater nicht hoch genug versichert. Ich sollte hier lieber nicht fliegen.»
Ganz sacht kommt sie wieder auf die Bühne runter.
«Ich kann nicht fliegen», gestehe ich.
«Das ist schwierig am Anfang», sagt sie. «Das ganze letzte Jahr bin ich abends in die Berge gekraxelt, um mich dort von Felsvorsprüngen abzustoßen. Es hat Monate gedauert, bis ich es endlich raushatte.»
Zum ersten Mal sagt jemand etwas übers Fliegen, das mich nicht so dumm dastehen lässt.
«Hat dir deine Mutter das denn nicht beigebracht?», frage ich.
Heftig schüttelt sie den Kopf, die Vorstellung scheint ihr Spaß zu machen.
«Meine Mutter ist so menschlich, wie ein Mensch nur sein kann. Ich meine, welches Engelblut würde das eigene Kind Angela nennen?»
Ich unterdrücke ein Lächeln.
«Sie hat nicht viel Phantasie, glaube ich», fährt Angela fort. «Aber sie ist immer für mich da gewesen.»
«Dann ist es also dein Vater.»
Ihre Miene wird plötzlich ganz ernst. «Er war ein Engel.»
«Ein Engel? Dann bist du also ein Halbblut, ein Dimidius .»
Sie nickt. Das bedeutet, dass sie doppelt so viel Kraft hat wie ich. Und sie kann fliegen. Und ihr Haar hat eine normale Farbe. Ich vergehe vor Neid.
«Dann ist deine Mutter nicht menschlich», sagt sie. «Das heißt, du bist …»
«Ich bin bloß ein Quartarius . Meine Mutter ist ein Dimidius , und mein Vater ist einfach ganz normal.»
Plötzlich fühle ich mich so ungeschützt, wie ich hier so auf der Bühne mit ausgebreiteten Flügeln stehe, also falte ich sie zusammen und lasse sie kraft meines Willens verschwinden. Angela tut es mir nach. Eine Weile stehen wir da und mustern uns gegenseitig.
«In der Schule hast du gesagt, dass du deinen Vater nicht kennst, dass du ihn nie gesehen hast», sage ich.
Ihr Gesichtsausdruck ist völlig leer.
«Natürlich nicht», sagt sie nüchtern. «Er ist ein Schwarzflügel.»
Ich nicke, als verstünde ich voll und ganz, worüber sie da redet, auch wenn das nicht der Fall ist. Angela dreht sich weg, verlässt den Lichtkegel auf der Bühne und geht in eine von den dunklen Ecken.
«Meine Mutter war einmal verheiratet, aber ihr Mann starb kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag an Krebs. Er war Schauspieler, und sie war eine scheue Kostümbildnerin. Das hier war sein Theater. Kinder hatten sie keine. Nach seinem Tod unternahm sie eine Pilgerreise nach Rom. Sie ist katholisch, Rom ist also eine ziemlich wichtige Stadt für sie, außerdem hat sie Familie dort. Eines Abends ging sie nach der Abendmesse nach Hause, und ein Mann folgte ihr. Anfangs versuchte sie, ihn zu ignorieren, aber irgendwie hatte sie seinetwegen ein ungutes Gefühl. Er ging allmählich schneller, also fing sie an zu laufen. Sie blieb erst stehen, als sie beim Haus ihrer Familie war.»
Angela setzt sich auf den Rand der Bühne und lässt die Beine über dem Orchestergraben baumeln. Den Blick hält sie gesenkt, während sie ihre Geschichte erzählt, den Kopf hat sie leicht abgewandt, aber ihre Stimme ist fest.
«Sie dachte, sie wäre in Sicherheit», fährt Angela fort. «Aber in der Nacht träumte sie von einem Mann, der am Fußende ihres Bettes stand. Sein Gesicht war wie das einer Statue, hat sie erzählt. Wie das des Davids von Michelangelo, unbewegt, Traurigkeit im Blick. Sie schrie, aber dann sagte er etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Seine Worte lähmten sie; sie konnte sich weder rühren noch einen Laut von sich geben. Sie konnte nicht aufwachen.»
Ich setze mich neben Angela.
«Und dann hat er sie vergewaltigt», flüstert sie. «Und sie begriff, dass es gar kein Traum war.»
Sie schaut auf, ist ganz verlegen. Ein Mundwinkel hebt sich.
«Die traurige Wahrheit ist also, dass ich nicht gerade in Liebe empfangen wurde», sagt sie. «Aber das Gute daran ist, dass ich all diese wunderbaren Kräfte habe.»
«Stimmt», sage ich und nicke. Von etwas Derartigem habe ich noch nie gehört. Ein Engel, der eine Menschenfrau vergewaltigt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Der Abend entwickelt sich langsam zu einer Geschichte wie aus Twilight Zone . Ich bin hergekommen, weil wir an einem Geschichtsprojekt arbeiten wollten, und jetzt sitze ich hier am Rand einer Bühne mit einem anderen Engelblut, einem Mädchen, das mir ihre gesamte
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