Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Jahren hätte ich damit gerechnet, an der Jackson Hole High School noch einem Engelblut zu begegnen. Mir hat es die Sprache verschlagen. Angela dagegen ist so energiegeladen, dass sie praktisch Funken sprüht. Einen Moment lang mustert sie mich, dann springt sie auf.
«Komm.» Sie schwingt sich auf die Bühne und grinst dabei immer noch wie die Katze, die den Kanarienvogel gefressen hat. Ungeduldig winkt sie mich zu sich. Ich stehe auf und klettere langsam auf die Bühne, dann blicke ich in den leeren Zuschauerraum.
«Was denn?»
Sie zieht ihren Mantel aus und wirft ihn irgendwo ins Dunkle. Dann geht sie ein paar Schritte zurück, sodass sie etwa eine Armeslänge von mir entfernt ist. Sie dreht sich zu mir um.
«Also gut», sagt sie.
Ich kriege allmählich ein bisschen Angst.
«Was hast du vor?»
«Zeig dich», sagt sie auf Engellisch.
Ein Blitz wie von einem Fotoapparat leuchtet auf. Ich blinzele und stolpere beinahe unter dem Gewicht meiner Flügel auf meinen Schulterblättern. Angela steht da, ihre eigenen Flügel hinter ihr sind ganz ausgebreitet, und sie strahlt mich an.
«Dann stimmt es also!», ruft sie aufgeregt. Tränen glitzern in ihren Augen. Sie runzelt die Stirn ein wenig, und mit einem Schnappen verschwinden ihre Flügel. «Sag die Worte», verlangt sie.
«Zeig dich!», rufe ich.
Wieder zeigt sich der Blitz, und dann steht sie mit ausgebreiteten Flügeln da. Vor Entzücken klatscht sie in die Hände.
Ich bin immer noch total verblüfft.
«Woher wusstest du das?», frage ich.
«Die Vögelchen haben es mir gezwitschert», erwidert sie. «Das, was du in der Klasse über die Vögel erzählt hast.»
So viel dazu, dass ich mich bedeckt halten soll. Meine Mutter bringt mich um.
«Auch mich treiben Vögel in den Wahnsinn. Aber ich wusste nicht, ob das nur irgend so ein verrückter Zufall ist. Und dann hab ich gehört, dass du ein Ass in Französisch bist», sagt sie. «Ich bin im Spanischkurs. Und das kann ich richtig gut, weil ich fließend Italienisch spreche, wegen der Familie meiner Mutter, die ganzen Sommerferien in Italien und so. Spanisch ist ziemlich ähnlich, es ist ja auch eine romanische Sprache, du weißt schon. Na, das ist jedenfalls die Geschichte, die ich erzähle.»
Ich kann den Blick nicht von ihren Flügeln lösen. Es ist ein immenser Schock für mich, sie an jemandem zu sehen, den ich nicht näher kenne, und was für ein irrer Gegensatz: Angela mit ihrem glänzenden schwarzen Haar, das ihr auf der einen Seite ins Gesicht fällt, mit schwarzem Tanktop, grauen Jeans mit Löchern über den Knien, dunklem Eyeliner und Lippenstift, knallroten Fingernägeln, und dann diese blendend weißen Flügel, die hinter ihr ausgebreitet sind und das Licht von der Bühne reflektieren, sodass ein Glanz sie erhellt, der eindeutig himmlisch ist.
«Allerdings war ich nicht hundertprozentig sicher, bis dein Bruder das Ringerteam besiegte», erzählt sie.
«Das gesamte Ringerteam?» Das ist nicht die Version, die ich von Jeffrey gehört habe.
«Hast du das denn nicht gewusst? Er ist zum Coach gegangen und wollte ins Team aufgenommen werden; der Coach hat nein gesagt, die Probekämpfe seien im November gewesen, er solle sein Glück im nächsten Jahr versuchen; also schlug Jeffrey vor: ‹Ich kämpfe gegen die Besten im Team aus jeder Gewichtsklasse. Wenn die mich besiegen, na schön, dann versuche ich es im nächsten Jahr. Wenn ich sie besiege, bin ich im Team.› Das wird erzählt. Ich habe in der ersten Stunde Sport, also war ich auch da, aber ich habe anfangs nicht so richtig hingeschaut, bis er sich halb durch das Mittelgewicht gearbeitet hatte. Praktisch die ganze Schule war da, als er dann gegen den Champion im Schwergewicht antrat. Toby Jameson. Der Typ ist ein Tier. Es war irre, da zuzugucken. Jeffrey warf ihn einfach auf die Matte, nicht mal angestrengt wirkte er dabei, und als ich ihn so sah, war mir klar, dass er nicht ganz menschlich sein kann. Und später hatte ich dann doch das Engel-T-Shirt in Englische Geschichte an und hab gesehen, wie du ins Grübeln kamst und dein Gesicht sich total verspannte, als du draufgeguckt hast. Da war ich mir dann endgültig sicher.»
«War das so offensichtlich?»
«Für mich schon», sagt sie. «Aber ich bin froh. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie ich.»
Sie lacht, und ehe ich noch ganz verarbeiten kann, was sie da sagt, beugt sie die Knie und hebt von der Bühne ab, dann gleitet sie mühelos über den verdunkelten Zuschauerraum
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